lesen die noch oder daddeln die schon?
der blick über das pult in die erste reihe im seminarraum ist, ob es uns gefällt oder nicht, ein blick über den generationengraben hinweg. ein für uns dozenten gewöhnungsbedürftiges mediennutzungverhalten: kaum noch bücher, praktisch keine handschriftlichen notizen mehr, aber dafür wenigstens ein internetfähiges endgerät, das auch ununterbrochen mit dem netz verbunden ist, auf jedem tisch. das tafelbild nehmen die kursteilnehmer auf fotos mit nach hause. die beliebtesten plätze im raum sind die in steckdosenreichweite - denn über den tag geht so mancher akku in die knie. während des kurses zocken die teilnehmer schonmal online-spiele gegeneinander; sie sind der festen überzeugung, sich auf den shooter und den dozenten gleichzeitig konzentrieren zu können. (wer bin ich, sie vom gegenteil überzeugen zu wollen?)
wir alten lehrenden vermissen derweil die bücher. kaffeetrinkend haben wir letzthin diskutiert, ob sie den studenten nur zu teuer sind - oder wirklich zu old school.
um herauszufinden, welcher erklärungsansatz näher an der wirklichkeit liegt, bin ich auf eine expedition gegangen. in die bib. mitten im semester. zu einer zeit also, in der die studenten so ganz langsam auf den gedanken kommen könnten, sich die bücher von der empfehlungsliste mal auszuleihen. weil erste verständnislücken sichtbar werden im kurs - oder ganz fern am horizont die prüfungen ihre schatten werfen.
die atmosphäre in der bib ist eher wie nachts im museum als wie crowded house. nun gut, der kuscheligkeitsfaktor der bib meiner hochschule liegt auf einer skala von 0 bis 10 auch höchstens bei 2,1. und der buchzugriff ist bei gähnender leere natürlich umso direkter und ungehinderter. das gilt im besten sinne: die bücher stehen vollständig und nutzungsspurenfrei im regal. weil ich das nicht so recht glauben will, recherchiere ich es vom rechner aus hinterher. unter den lehrbüchern zu zwei oder drei ausgewählten juristischen vorlesungsthemen ist knapp die hälfte ausgeliehen. weil es jeweils mehrere konkurrenztitel gibt, zähle ich das grob übern daumen gepeilt zusammen. heraus kommt: höchstens die kleinere hälfte der jeweiligen kursgruppe kann ein buch ausgeliehen haben. weniger, wenn man davon ausgeht, dass einige leute sich zwei oder drei titel zum selben thema leihen.
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auf dem nachhauseweg besuche ich die juristische bibliothek der nächstgelegenen universität. besser frequentiert, aber bei weitem nicht überlaufen. etwa ein drittel der leute um mich herum tippt oder wischt auf smartphone-displays. immerhin liegen aber aufgeschlagene bücher auf ihren tischen. auf den meisten jedenfalls. der junge mann direkt hinter mir verzehrt ein mittleres mittagessen. ziemlich laut. keine ahnung, wie er das in die bib reingekriegt hat. als ich seinem alter war, war das sowohl verboten als auch tabu. weil: fett schadet buch. vereinzelt wird gelesen, teils wird aber auch einfach abfotografiert. hm.
zwischenergebnis: es liegt wohl gar nicht so sehr an den kosten. vermutlich ist so ein buch einfach eine halbe zumutung. bibliotheken werden entbehrlich, bücher werden überschätzt.
trotzdem schade, irgendwie.
Stadtoberrechtsrat Stadt Mönchengladbach • Digitale Verwaltung • Privataccount
1 MonatDas Schlimme ist: Ich bemerke den Effekt, dass das Lesen längerer Texte mir Konzentrationsschwierigkeiten bereitet am eigenen Leibe, obwohl ich vergleichsweise spät zum Smartphone gekommen bin. Die negativen Auswirkungen auf das Gehirn sind mittlerweile nachgewiesen. Ich würde ein Experiment mit den Studierenden wagen: Einen Monat lang ist der Hörsaal techfreie Zone: Stift und Papier, Kreide und Tafel (ok, FH: Filzmarker und Whiteboard) und die salbenden Worte des Dozenten. Danach alles auf Hightech und dann vergleichen.
Rechtsanwalt / Attorney and Counsellor at Law (New York)
1 MonatObacht, vermutlich schneiden die Studierenden längst den Ton ihrer Vorlesungen mit und lassen sich später dann das Transkript von ChatGPT in verdaulichen Häppchen zusammenfassen.