Mit den Umständen LEBEN oder von den Umständen leben lassen?

Mit den Umständen LEBEN oder von den Umständen leben lassen?

Mit den Umständen LEBEN oder sich von den Umständen leben lassen?

Über das „richtige“ Gefühl in schwierigen Zeiten

Wir alle werden in unserem Leben immer wieder mit Umständen oder Veränderungen/Gegebenheiten in unserem Umfeld konfrontiert, die ad hoc oder auch gar nicht verändert werden können. Menschen gehen sehr unterschiedlich mit diesen Herausforderungen um, abhängig von ihrer emotionalen Bewusstheit und Kompetenz. Entsprechend erwarten sie auch von ihrem Umfeld, dass es ähnlich oder gleich in einer bestimmten Situation fühlen muss/darf/soll.

Klingt abstrakt recht schlüssig, doch was heisst das konkret? Dazu möchte ich ein Beispiel aus meiner aktuellen Lebenssituation schildern:

Aufgrund einer Eigenbedarfskündigung bin ich nun schon mehr als ein Dreivierteljahr auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Bislang leider ohne Erfolg! Der Wohnungsmarkt in einer der schönsten Städte Deutschlands ist hart umkämpft, auf die wenigen Angebote melden sich bis zu 500 Bewerber, Eigeninitiativen versanden im Nirgendwo und die Zeit läuft mir davon. Mit der alten Wohnung sind wir inzwischen in die juristische Auseinandersetzung eingetreten, was die Situation nicht leichter macht.

Mein gesamtes Umfeld ist über meine Suche informiert und so geschieht es immer wieder, dass ich Bekannte irgendwo treffe und natürlich kommt dann immer die Frage „hast Du inzwischen was gefunden?“.

Mein bedauerndes Verneinen wird dann oft getoppt von „oh das würde mich alles so nerven“ „ach ich könnte gar nicht mehr schlafen“ „das würde mich so furchtbar belasten“ . Um dann im nächsten Satz zu hören: „Du nimmst das aber gelassen“ „dafür bist Du aber gut drauf“ usw.

Nun bin ich kein Luftikus (Luftikussin?;-), die die Realität ignoriert. Denn natürlich unternehme ich alles, was nötig und möglich ist bei meiner Suche. Ich ignoriere keine juristischen Fristen und bisweilen nervt und drückt es auch.

Es führt jedoch weder dazu, dass ich nicht schlafen kann noch drückt es mich dauerhaft nieder. Wozu auch? Das würde weder mir noch bei der Wohnungssuche helfen.

Und doch sehe ich immer wieder das Erstaunen auf den Gesichtern meiner Bekannten, wie ich angesichts der drohenden Obdachlosigkeit (von der ich eigentlich nicht glaube, dass sie kommt) „so gut drauf sein kann“.

Jetzt könnte man natürlich sagen, dass mein Wohnungsproblem geringfügig ist angesichts der aktuellen Übel der Weltgeschichte: Covid, Krieg und Klima.

Doch letztlich ist die Frage dieselbe: muss ich von all dem Übel in der Welt nicht dauerhaft in Trübsal verfallen? Ja darf ich mich überhaupt freuen, wenn anderswo Menschen sterben oder ihre Existenz, ihre Heimat verlieren?

Ich finde, ich darf, ja ich muss es geradezu! Trotz all der Trauer, Wut und Sorge, die natürlich auch in mir ihren Platz hat.

Doch wenn wir nicht mehr fröhlich sein dürfen, weil Menschen durch Kriege Heimat und Leben verlieren, dürften wir es nie mehr. Denn irgendwo ist immer Krieg.

Der jetzige ist nur für viele in unserem Land deshalb „schlimmer“, weil er vor unserer Haustür passiert und die unmittelbaren Folgen für uns verheerend sein können. Er ist viel realer und das macht die Ängste gross!

Natürlich ist es legitim, Angst, Wut oder Trauer zu empfinden angesichts all dem, was in dieser Welt geschieht. Und so berechtigt diese Gefühle sind, haben sie doch auch immer mit meiner eigenen Angst, meinem eigenem Zorn, meiner eigenen Traurigkeit zu tun. Die ich auch nicht leugnen, denen ich aber ehrlich und offen begegnen sollte.

Ich kann mir bewusst machen, was da in mir passiert und welchen Zeitpunkt in meinem Leben diese Gefühle berühren. Oft resultieren sie aus Erfahrungen in der Vergangenheit projeziert in eine spekulative Zukunft. Nur selten berühren sie das Jetzt, die Gegenwart, vergiften dieses aber.

Wenn ich heute Angst vor einem eventuellen Krieg in Deutschland habe, ist diese Angst jetzt in diesem Moment auf eine fiktive Situation bezogen. Das Zusammensein mit meiner Familie, meinem Partner, ein gemütliches Zuhause, ein gutes Essen, gute Musik genau in diesem Moment ist es nicht und doch laufe ich Gefahr all dies zu verpassen, weil ich in meiner Angst gefangen bin.

Damit helfe ich letztlich niemandem, mir nicht und auch nicht den Menschen, die tatsächlich von Krieg betroffen sind. Helfen kann ich, in dem ich spende, Transporte organisiere, Unterkünfte anbiete oder was auch immer.

In unserer Chorprobe letzte Woche (die erste richtige, also nicht virtuell, seit Monaten) waren manche wegen des Krieges nicht gekommen. Wir anderen, die wir gekommen waren, waren glücklich wieder miteinander singen zu können. Am Ende haben wir „Dona nobis pacem“ gesungen und nicht wenige von uns haben darin Trost gefunden.

Jede Entscheidung, ob dafür oder dagegen, ist in Ordnung, wenn sie bewusst geschieht. Und ich hoffe sehr, dass die daheim Gebliebenen nicht Opfer ihrer eigenen Angst waren und deshalb nicht kommen konnten.

Denn das ist der Schlüssel: Bewusstheit, ein sich Wahrnehmen, sich Erkennen.

Erkennen, Erspüren, was ich wirklich fühle, was mir guttut und was nicht. Welche emotionalen Bedürfnissen getriggert werden und wie ich mit diesen umgehen möchte.

Je besser ich mit mir selbst vertraut bin, um so bewusster kann ich sein. Kann entscheiden, wen oder was ich an mich heranlassen möchte und wen oder was nicht.

In meinem Leben hat alles seine Zeit.

Manchmal sorge ich mich auch, bin traurig, wütend oder verzweifelt.

Doch diese Gefühle bestimmen nicht mein Leben. Diese Entscheidung habe ich in einer Phase meines Lebens getroffen, wo all diese Gefühle sehr mächtig waren. Und diese Entscheidung hat mir die grösste innere Freiheit beschert, von der ich mir niemals hätte vorstellen können, dass sie existiert.

Ich habe mich entschieden, dass mein Leben von Hoffnung, Zuversicht, Freude und Liebe erfüllt sein soll. Auch in Phasen, die vielleicht nicht so hoffnungsvoll sind. Nicht indem ich verdränge oder leugne, sondern akzeptiere, annehme und wachse.

Denn das ist die wahre Freiheit, die uns niemand nehmen kann, wie mächtig er oder sie auch sein mag: die Freiheit in mir selbst, die Freiheit so zu fühlen, wie ich es sich für mich RICHTIG anfühlt!

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