Physical Distancing = Social Distancing ?
Neulich fragte mich ein mir nahe stehender Mensch (den ich zur Zeit selbstverständlich auch nicht umarme), wieso es eigentlich "Social Distancing" heisse und nicht "Physical Distancing"?
Denn eigentlich geht es ja darum, physisch auf Abstand zu gehen, nicht psychisch, nicht emotional. Ganz im Gegenteil, werden wir doch allerorts ermuntert, unsere Lieben per Telefon, Skype oder vielleicht sogar postalisch wissen zu lassen, dass wir an sie denken und wir uns ihnen verbunden fühlen.
Und bei allen Diskussionen über etwaige Lockerungen von Ausgangssperren, Kontaktverboten, Geschäftsschliessungen usw. wird immer wieder betont, dass diese nur vorstellbar sind, wenn wir die Regeln des "Physical Distancing" noch für viele Monat einhalten werden.
Betrachtet man alleine den Aspekt des "Physical Distancing" treibt dieser ja schon jetzt seltsame Blüten. Mit Mundschutz durch den Wald trabende Jogger, die einen Abstand von 5 Meter mindestens einfordern. Menschen, die erschrocken zurück springen, wenn sie auf einen weiteren Menschen im Supermarktregal treffen. Plötzlich ausweichende Passanten, die es einem nicht immer leicht machen, dies nicht persönlich zu nehmen. Und zum ersten Mal in meinem privilegierten weissen Leben bekomme ich einen Eindruck davon, wie es ist, eine schon optisch als solche erkennbare Minderheit zu sein, die von anderen darum gemieden wird. Eine interessante, aber sicher keine schöne Erfahrung! Nun Paranoiker gab es immer, gibt es immer und wird es immer geben.
Doch was macht das "Physical Distancing" mit uns?
Wie geht es den alten Menschen im Altenheim, für die Onlinekontakte keine Option sind. Die vielleicht nicht einmal regelmässig Zugang zu einem Telefon haben. Für die, die Besuche und Kontakte zu ihren Liebsten Lebenselixier sind. Die ihre Enkel einfach nur in den Arm nehmen wollen, selbst sich nach einer Umarmung sehnen.
Und wie mag es all den Paaren ergehen, die seit Wochen und vielleicht noch für Wochen sich nicht sehen, spüren, körperlich lieben können? Getrennt durch die Distanz oder durch einen Zaun? Nicht jedes Paar ist für die Fernbeziehung geschaffen!
Und wie geht es uns damit? Ich bin kein Telefonmensch, auch in Zeiten von Corona telefoniere ich nicht mehr und intensiver als sonst.
Videokonferenzen mit dem Büro finde ich gut, mit der eigenen Familie eher nicht so. Es fühlt sich seltsam distanziert an, es fehlt der direkte Kontakt, das Miteinandersein, das gemeinsame Essen. Wenn alle am Bildschirm essen, versteht man nicht mehr, was gesagt wird. Überhaupt das entspannte Durcheinanderreden, wie es in vielen lebendigen Familien üblich ist, am Bildschirm ein Ding der Unmöglichkeit, denn alles, was dann übrig bleibt, ist Wortsalat.
Und überhaupt skypt man ja eh nur mit denen, die einem wirklich wichtig sind. Denn irgendwann ist es genug, mit der Sitzerei vor dem Bildschirm, mit dem Kämpfen mit der Technik, dem Akku, der Verbindung.
Und so sollten wir aufpassen, dass aus "Physical Distancing" nicht tatsächlich "Social Distancing" wird, wir nicht zunehmend vereinsamen und wir nicht anfangen, Angst vor anderen Menschen zu bekommen. Ein Begriff, der zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird.
Denn dann wird aus Social Distancing eine weit verbreitete Sozialphobie. Und das wünscht sich ja wohl niemand.
Ich persönlich kann es gar nicht abwarten, die ganzen Menschen, die mir lieb und teuer sind, wieder in den Arm zu nehmen, zu drücken und zu halten.
Möge es bald wieder so sein!