Mit dezentraler Arbeit den Revierstress in Unternehmen reduzieren
Mein Arbeitsplatz mit rosiger Umgebung

Mit dezentraler Arbeit den Revierstress in Unternehmen reduzieren

Viele Menschen brauchen die Onlineverbindung zur Welt und zur Nachrichtenlage mittlerweile als tägliches Rüstzeug. „Bei nicht wenigen Menschen läuft während des gesamten Arbeitstages das Internet im Hintergrund - jederzeit bereit, auf Wissen zuzugreifen, Auskunft zu geben, Zerstreuung zu bieten und Kontakte herzustellen. Das Internet ist ein beruflicher und sozialer Interaktionsraum“, so Sabria David im Fehlzeiten-Report vor einigen Jahren.

Das Ganze eineindeutig mit Internet-Sucht gleichzusetzen, wie es der liebwerteste Neuro-Gichtling Manfred Spitzer bei jeder sich bietenden Gelegenheit zelebriert, greift dabei zu kurz.

Der digitale Alarmismus schadet dem Verständnis für digitales Leben und digitale Arbeit. Den Hauptimpuls des Netzgeschehens sieht David in der Möglichkeit, Distanzen zu überwinden. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan prägte mit einem Ausflug zum Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper den Begriff der Retribalisierung.

Nach dem Gutenberg-Zeitalter der distanzierten Schriftkultur erleben wir nun die tribalen Elemente einer oralen Kultur, die das unmittelbare Miteinandersein wiederbelebt. Also unser berühmtes Netz-Lagerfeuer, das wir in Livetalks bei Sohn@Sohn kultivieren. Es gibt aber auch Schattenseiten. David spricht vom Revierstress und der Revier-Verteidigung. Das spielt sich vor allem im beruflichen Umfeld und in Unternehmen ab, die noch eine ausgeprägte Präsenzkultur von ihren Mitarbeitern verlangen.

Arbeitnehmer überwachen ihr Interaktionsfeld

Arbeitnehmer sind konditioniert, ihr Interaktionsfeld zu bewachen, die Kollegen im Auge zu behalten, die Nähe zu Vorgesetzten zu suchen und möglichst spät das Büro zu verlassen. Anwesenheit wird gleichgesetzt mit Engagement und Einsatzbereitschaft. Überträgt man eine solche Präsenzkultur in das digitale Zeitalter, steigt nach Erkenntnissen von David der Druck exponentiell. „Während bisher selbe nach langen Überstunden irgendwann einmal das Revier bestellt war, hat sich das berufliche Revier nun mittels digitaler Möglichkeiten in ungeahntem Maße ausgedehnt: zeitlich auf 24 Stunden an sieben Tage der Woche. Diese Kombination aus Präsenzkultur und digitaler Verfügbarkeit ist eine für Arbeitnehmer höchst riskante und belastende Konstellation“, erläutert David. Und das hat nichts mit Homeoffice zu tun. Die digitale Verfügbarkeit gedeiht vor allem im klassischen Präsenz-Management. Es fehlen im Büro-Alltag die natürlichen Rückzugsräume und Filter, um Beruf und Privatleben voneinander zu trennen.

Sich entziehen zu können ist ein zentraler Aspekt zur Stress-Reduktion. Aber das reicht bei weitem nicht aus. Gefordert ist vor allem das Personalmanagement, den digitalen Revierstress zu minimieren und die Personalentwicklung an die technologischen Entwicklungen anzupassen. Mitarbeiter dürfen sich medial nicht verausgaben und müssen in der Lage sein, fokussiert zu arbeiten.

Keine Konzepte gegen digitalen Stress am Arbeitsplatz

Gegen dezentrale Arbeitskonzepte gab und gibt es nach wie vor große große Widerstände, die allerdings öffentlich nicht zugegeben werden. Homeoffice war nur möglich durch die Corona-Zwangsmaßnahmen: Hinter vorgehaltener Hand verteidigen viele Führungskräfte ein System der arbeitsteiligen Industriekultur mit einer Kommunikation, die Top-Down verteilt wird und nicht interaktiv ist.

Arbeitsautonomie stärkt die Zufriedenheit

Es gibt schon seit langer Zeit empirische Befunde, die den Vorteil von dezentralen Konzepten für die Arbeit untermauern. “Mit Standort-Unabhängigkeit erschließen wir genau jene Talente für das Service-Geschäft, auf die man mit stationären Konzepten bislang keinen Zugriff hatte”, betont Thomas Dehler vom Berliner Dienstleister Value5.

In einer Mitarbeiterumfrage von Value5 werden die Vorteile von dezentraler Arbeit deutlich. So reagiert das soziale Umfeld mit 71 Prozent positiv und unterstützt die Homeoffice- Mitarbeiter in ihrer Entscheidung, von zu Hause aus zu arbeiten. 20 Prozent äußerten sich zurückhaltend, 4 Prozent neutral und nur 2 Prozent ablehnend. „94 Prozent unserer Homeoffice-Mitarbeiter wollen mittlerweile vollständig zu Hause arbeiten. 6 Prozent plädieren für einen Wechsel zwischen betrieblicher und privater Arbeitsstätte.

Entsprechend hoch ist der Zufriedenheitswert mit 4,38 bei einer Skala von 1 bis 5 (1 steht für „schlecht“, 5 für „sehr gut“). Interessant sind die Gründe, die nach Auffassung der Mitarbeiter für dezentrale Arbeit sprechen: Es sei die beste Form, um Familie und Arbeit in Balance zu halten: „Genau so wollte ich immer arbeiten. Kein Stress und keine Krankheitsausfälle.“ Ein anderer Mitarbeiter gibt zu Protokoll, dass die Homeoffice-Tätigkeit nach einem schweren Verkehrsunfall die erste Möglichkeit war, über eine Initiativbewerbung wieder arbeiten zu können: „Und mir geht es sehr gut dabei.“ Weitere Stimmen: Zuhause sei der beste Platz zum Arbeiten ohne Mobilitätsaufwand. Das Alter spielte bei der Bewerbung keine Rolle. Es sei die optimale Beschäftigungsform: „So etwas wollte ich schon immer tun. Ich kann Familie und Arbeit in Einklang bringen.“

Flurfunk und Mobbing fallen weg, Konkurrenzdenken gegenüber Kolleginnen und Kollegen bleibt aus, Zeitdiebe wie Rushhour und ewige Parkplatzsuche bestimmen nicht mehr den Tagesablauf. Selbst bei einer Organisation mit festem Standort ergeben sich nach Erfahrungen von Value5-Geschäftsführer Thomas Dehler die Vorteile der Flexibilisierung, weil Mitarbeiter nicht jeden Tag ins Büro müssen – man kann zwischen privater und betrieblicher Arbeitsstätte wechseln. Gleiches gilt beim Angebot von freiberuflichen und festangestellten Mitarbeitern – auch hier werden die Teams in hybrider Form gebildet.

Abschied von den Präsenzerwartungen des Managements

Arbeitsplätze, die über die Computerwolke gesteuert werden, könnten das Revierstress-Szenario reduzieren. Dann bringen die neuen Technologien wieder alte Tugenden hervor, wie es Marshall McLuhan in seiner Tetrade beschrieben hat.

Zum Anzeigen oder Hinzufügen von Kommentaren einloggen

Ebenfalls angesehen

Themen ansehen