Murphy: Es geht garantiert schief mit dem Strom

Es geht garantiert schief mit dem Strom

Was passiert bei einer Strommangellange und ist dann ein Elektroauto intelligent?

Von Andreas Schwander alias Edward Aloysius Murphy, publiziert in der Auto-Illustrierten



Die Strommangellage, die dann doch nicht kam, war das grosse Thema des Winters. Und auch wenn am Schluss alles lief wie immer, die Probleme der Schweiz mit der Energie bleiben. Sie sind grösstenteils hausgemacht und der Wille zur Lösung ist klein. Dass da Rechtspopulisten meinen, man müsse Elektroautos verbieten oder ihre Fahrten bei einer Mangellage einschränken, passt zur Energie-Kakophonie der letzten Jahre. Denn Elektroautos haben im schlimmsten Fall keinen Einfluss auf eine Strommangellage und im besten sind sie Teil der Lösung. Doch von vorne.

Strategie für Amateure, Logistik für Profis

Beim Strom hat jeder eine Strategie. Die einen setzen auf Solarenergie, die andern auf höhere Staudämme, wieder andere wollen importieren oder am liebsten neue Atomkraftwerke bauen. Aber auch bei der Elektrizität gilt der Grundsatz von D-Day-General Omar Bradley: «Amateure sorgen sich um die Strategie, Profis um die Logistik». Und die Logistik beim Strom ist das Netz. Egal welches System am Anfang steht, ohne Netz kommt in der Steckdose nichts an. Das ist entscheiden für jede Überlegung zur Stromknappheit.

Die Schweiz hat in der Stromlogistik immer eine führende Rolle gespielt. Sie hat «Strom-Europa» erfunden, das heutige europäische Verbundnetz. Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg dringend mehr Strom für den Wiederaufbau brauchte, dem potentiellen Lieferanten Frankreich aber nicht über den Weg traute, organisierte der damalige Direktor des Kraftwerks Laufenburg, René Hochreutiner ein Treffen in Basel. Er brachte die ehemaligen Kriegsgegner dazu, ihre Netze via die neutrale Schweiz zusammenzuschliessen, in einer riesigen Schaltanlage am Rhein, gleich neben seinem Kraftwerk, im «Stern von Laufenburg».

Olympische Direktübertragung dank «Strom-Europa»

Danach war in der Stromwelt nichts mehr wie früher. Die Stromlogistik war auf einen Schlag eine völlig andere. Die heftigen Frequenzschwankungen und wöchentlichen Stromausfälle waren Geschichte, weil die vereinigten Netze viel stabiler waren als kleine Netze. Als 1960 an den olympischen Spielen in Rom erstmals seit 1936 wieder Fernseh-Direktübertragungen geplant waren, schien das aufgrund des instabilen italienischen Netzes mit der damaligen analogen Fernsehtechnik erst gar nicht möglich. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde daraufhin Italien an den Verbund angeschlossen, zum ersten völkerverbindenden transeuropäischen Sportfernseh-Event.

Heute versorgt das Europäische Verbundnetz über 500 Millionen Konsumenten. Laufenburg ist das «Strom Rütli Europas». Erst drei Jahre nach der Inbetriebnahme des «Sterns von Laufenburg», noch immer eine der grössten und wichtigsten Schaltanlagen Europas, kam der deutsch-französische Freundschaftsvertrag zustande, der in Paris gerade gross gefeiert wurde.

Die Geburt von Strom-Europa hatte langfristige Konsequenzen – auch für die «Hebamme» Schweiz. Die Schweizer Industrie konnte ab 1960 im eigenen Land Kraftwerke bauen, die für die Schweiz alleine viel zu gross sind, weil ein Ausfall nur mit ausländischen Kraftwerken und dem europäischen Netz abfangbar sind. Die Schweiz hat 42 Strom-Grenzübergänge in die EU. Damit wird das Schweizer Netz massiv stabiler und die grossen Kraftwerke effizienter, ohne dass wir die dafür nötigen Leitungen, Kraftwerk und Reservekapazitäten selber bauen, betreiben und finanzieren müssen. So hatten es die technokratischen Ingenieure der 1960er und 70er geplant und gebaut, unter ihnen der BBC-Chef Edwin Somm, Vater eines der lautesten Gegner der Annäherung an Europa.

Europa ist die elektrische Lebensversicherung der Schweiz

Wollte man die Schweizer Infrastruktur nach den Vorstellungen dieser Isolationisten umbauen und für einen Schweizer Inselbetrieb tauglich machen, der auch ohne Stromabkommen mit der EU zuverlässig funktioniert, müssten alle Kraftwerksanlagen und das ganze Stromnetz komplett umgebaut werden. Die grossen Maschinengruppe müssten durch viele kleinere ersetzt und neben jeder Hochspannungsleitung müssten zwei neue gebaut werden. Denn jene beiden (oder auch viel mehr) Leitungen, die um die Schweiz herum- und wieder hineinführen, könnten nicht mehr genutzt werden.

Das ist technisch, finanziell und vor allem juristisch unmöglich. Denn jene, die am lautesten «Freiheit!» schreien, sind dann auch die schnellsten mit Einsprachen gegen neue Strommasten, welche die ach so schöne Landschaft verschandeln. Und vergraben geht auch nicht. Geld spielt zwar beim Leitungsbau keine Rolle, weil per Gesetz alle Kosten auf die Stromkunden überwälzt werden. Deshalb ist es egal, dass eine unterirdische Leitung 20 mal so viel kostet wie eine Freileitung. Aber eine unterirdische Hochspannungsleitung, eine sogenannte Verkabelung, braucht eine Baupiste so breit wie eine doppelspurige Autobahn. Die darf nicht bebaut, befahren oder mit Bäumen bepflanzt werden. Nur ein sehr langer Golfplatz liegt gerade noch drin. Dagegen wehren sich die Landschaftsschützer dann auch.

Windräder? Njet!

Wenn schon Hochspannungsleitungen nicht gehen, dann gibt’s für Windräder erst recht ein lautes «Nijet», obwohl es in der Schweiz viele gute Standorte gibt. Österreich mit einer ähnlichen Geographie wie die Schweiz erzeugt etwa 13 Prozent seines Strombedarfs mit Windkraft, während es in der Schweiz kaum ein Prozent ist. Denn nicht die Alpenkämme, sondern die Jurahöhen und das Berner Seeland wären besonders gut geeignet für Windkraft, die 70 Prozent der Energie im Winter liefert. Denn Alpen und Jura bilden zum Genfersee hin einen Trichter, der einen so genannten Venturi-Effekt erzeugt: Eine Verengung, die den Luftstrom beschleunigt. Um die Kraft des Windes zu brechen, wurden deshalb während der Juragewässerkorrektion im Berner Seeland Kilometerlange Baumreihen gepflanzt. Zwischen diese Baumreihen können sehr viele Windräder gebaut werden, die immer genau dann am meisten Strom produzieren, wenn er am nötigsten ist: Bei Bise. Wenn nur der Schweizer Nationalheilige St. Florian nicht wäre. Doch der hat am Ende nie Recht, obwohl er immer gewinnt. Und so eiern wir einer Strommangellage entgegen.

Für ein AKW brauchts ein Stromabkommen

Drum schreien die grössten St. Florians-Anbeter nach neuen Atomkraftwerken. Doch genauso, wie ein Ferrari ohne asphaltierte Strassen völlig nutzlos ist, ist ein Atomkraftwerk ohne adäquates Stromnetz. Und wieder geht’s um Logistik, wo alle meinen es sei die Strategie. Wenn schon für Wasserkraftwerke das Gesetz von «zu gross für die kleine Schweiz» gilt, gilt es für Atomkraftwerke erst recht. Ein Reaktor mit 1500 MW Leistung, wie sie der bis 2011 vorgesehen neue EPR-Reaktor erbracht hätte, braucht Netzausbau im Umkreis von 150 bis 200 Kilometern. Nun gibt es in der Schweiz keinen einzigen Punkt, der so weit von einer EU-Grenze entfernt ist. Wer’s nicht glaubt, kann gerne mit dem Zirkel auf einer Schweizer Karte danach suchen. Da können nun die Atomfreunde noch lange den neuen SVP-Bundesrat Albert Rösti um ein neues AKW anflehen. Vielleicht können sie das Ding dann sogar bauen. Aber einschalten können sie es nicht. Dafür, und für jedes ähnlich grosse Kraftwerk egal ob Gas- oder Wasser, brauchts ein Stromabkommen mit der EU und die neuen Leitungen ennet der Grenze. Aber sobald es das Stromabkommen gibt, brauchts das AKW nicht mehr.

An einer Strommangellage wäre demnach einzig und allein die EU-skeptische Verhinderungspolitik rechter und teilweise linker Gruppierungen schuld. Das könnte schon sehr bald Realität werden – nämlich dann, wenn ab 2024 70 Prozent der Leitungskapazität für den Innereuropäischen Stromhandel reserviert sind. Wenn die Schweiz bis dahin kein Abkommen hat, droht uns eine Strommangellage, selbst wenn es in der EU mehr als genug Strom gibt. Wir bekommen dann einfach keine Leitungskapazität und die EU hat auch keine vertragliche Verpflichtung, uns zu helfen. Und wenn es in der ganzen EU mangelt, würde die EU mit einem Vertrag auch mal die Stahlwerke im Ruhrgebiet oder die Pneufabrik von Michelin in Clermont-Ferrand abschalten. Ohne Abkommen heisst es: «Débrouillez-vous». Wie Omar Bradley sagte: Profis sorgen sich um die Logistik.

In der Strommangellage ist Autofahren das kleinste Problem

In der Kakophonie der schreienden Halbweisheiten sollen nun im Falle einer mit grösster Wahrscheinlich völlig unnötigen und völlig selbst verschuldeten Schweizer Strommangellage die Strassenlaternen ausgeschaltet, Industrien heruntergefahren, die Fahrt mit Elektroautos verboten und rollende Blackouts eingeführt werden. Die Autos sind da noch das kleinste Problem. Denn wir hätten wohl ganz andere Schwierigkeiten als täglich eine Stunde im Stau zu stehen. Die Strassen wären leer, es sähe aus, wie während dem Lockdown der Pandemie und es wäre niemand mehr allein im Auto unterwegs. Ob in einem solchen Fall ein Verbrenner oder ein Stromer besser wäre, ist wahrscheinlich egal. Denn auch die Pumpen in Tankstellen brauchen Strom und es gibt kaum Tankstellen mit Notstromanlagen. Und wer würde kontrollieren, ob ein Plug-in-Hybrid nun elektrisch oder mit dem Verbrennungsmotor fährt?

Umgekehrt lassen sich Elektroautos auch an privaten Solaranlagen laden und sie machen den Strom in der Mangellage transportabel, zumindest jene der neusten Generation von Hyundai oder VW, welche bi-direktional laden können. Einige besitzen auch einen normalen 220Volt-Wechselstrom-Abgang, über den man beispielsweise im Notfall bei den Schwiegereltern mit einem Verlängerungskabel einen Heizlüfter betreiben oder alle Batteriegeräte laden könnte.

Stromer, Photovoltaik, Stromabkommen

Aus Angst vor Stromknappheit keinen Stromer zu kaufen ist deshalb eine schlechte Idee. Um die Stromknappheit zu vermeiden, sollte man erst recht auf Elektromobilität und private PV-Anlagen setzen – und politisch, wirtschaftlich und mit dem Stimmzettel auf enge Kooperation mit der EU drängen. Denn der heute praktizierte «autonome Nachvollzug» ist weder frei noch intelligent. Die Diskussion, ob wir nun ein AKW brauchen oder nicht, ist ohnehin hinfällig. Das Problem muss 2024 gelöst werden. Eine Lösung, die erst 2054 verfügbar ist, ist keine. Ein Strom- und Rahmenabkommen mit der EU ist das sicherste Mittel gegen eine Strommangellage. Quasi eine Strom-Impfung. Dann stehen der Schweiz nämlich wieder alle Wege der Stromlogistik offen. Strategie hin oder her. Wie General Bradley schon wusste. Für alles andere haben wir die falsche Infrastruktur, die falschen Kraftwerke und vor allem keine Zeit. Aber vielleicht lernen wir es wirklich erst mit einer Strommangellage.

Sybil Eggarter

Wie Sie als Führungsperson innerhalb kürzester Zeit Ihr Team ins Boot holen und zu effizienten Lösungen anleiten, ohne dafür Extrakosten fürs Management aufzuwenden.

1 Jahr

Der Mensch sitzt am angesägten kurzen Ast.

Wilfried Goesgens

Application Developer bei ArangoDB

1 Jahr

Wer Strommangel befuerchtet, dem sei aber eine Inselfaehige Solaranlage empfohlen ;)

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