New Work braucht mehr Jazz:Worauf es beim Arbeiten ohne Hierarchie ankommt
Björn Waide, Geschäftsführer

New Work braucht mehr Jazz:Worauf es beim Arbeiten ohne Hierarchie ankommt

Bevor die Pandemie auch den letzten Zweifelnden vor Augen gehalten hat, dass es ein neues Verständnis von Arbeit in und für Unternehmen braucht, wurde vor allem viel geschrieben und diskutiert. Der Begriff New Work wurde dabei so stark mit Erwartungen und Emotionen aufgeladen, dass sein eigentlicher Kern immer unsichtbarer wurde: Die Reflexion der Einzelnen darüber, was sie wirklich, wirklich tun wollen, und das selbstbestimmte, selbstbewusste Handeln nach einer darauf basierenden, neu definierten Maxime – das macht New Work aus. 

New Work ist nicht Obstkorb oder Kicker, New Work ist der Wunsch und der Weg hin zu einer neuen Arbeitswelt, die geprägt ist von der Selbstwirksamkeit des Individuums. Oder um es herunterzubrechen: Jede:r kann aus sich selbst heraus wirken und handeln. Es braucht nicht die Führungskräfte, die einem vorgeben, wo es lang geht. Führungskraft sind und haben alle. 

New Work, mal praktisch 

Die Herausforderung in Organisationen besteht nun darin, dass es auch weiterhin ein geregeltes Miteinander braucht. Doch anstatt das innerhalb eines hierarchisch modellierten Systems zu tun, braucht es neue Elemente in einer auf Selbstverantwortung basierenden Organisation. Elemente, die jede:n dazu befähigen, genau das zu tun, was er:sie wirklich, wirklich wollen – und können.

Beim Fintech-Unternehmen smartsteuer habe ich – damals als CEO – selbst den Prozess einer Reorganisation mitgestalten dürfen. Ausgehend von der Idee, nur das Führungskonzept anzupassen, sind wir letztlich radikalere Schritte gegangen: Das Management wurde quasi aufgelöst, die Ebene der Teamleiter:innen wurde inklusive der Mitarbeitendengespräche abgeschafft. Stattdessen wurde ein Strategiekreis begründet, dazu Verantwortungsdreiecke – innerhalb derer Aufgaben aus dem Tagesgeschäft bearbeitet werden – und ein Thesenbasar – bei dem sich Projekt-Teams um neue Ideen zusammenfinden – initiiert. Außerdem wurden etwa Weiterbildungsbudgets zur freien Verfügung gestellt und Urlaube für frei wählbar erklärt. Seither funktioniert smartsteuer selbstorganisiert. 

So eine Reorganisation wirft viele Fragen auf: Was bedeutet es, wenn plötzlich jede:r Führungskraft ist? Welche Elemente sind in welcher Ausgestaltung notwendig, um ein gänzlich neues Verständnis von Führung zu manifestieren? Und wie schafft man es, all das im Angesicht einer Pandemie zu regeln?

Wer Antworten auf genau diese Fragen sucht, erkennt, dass die Debatte um New Work vor allem das ist: eine Debatte, mit sehr wenigen Beispielen, wie es wirklich, wirklich anders im Unternehmen laufen kann. Es gibt kein Schema, nach dem jede x-beliebige Organisation neu aufgestellt werden kann. Neues Arbeiten und Führen, das ist auf dem Papier eine Wonne, in der Praxis aber ein Wagnis.

Führung braucht mehr Jazz 

Wir haben gelernt: Alle Bemühungen stehen und fallen mit der Bereitschaft, Veränderungen im Selbst anzugehen. Erst dann kann ein Miteinander geschaffen werden, das sich kontinuierlich nach vorn entwickelt. Es braucht nur ein individuelles Wecken der Leidenschaft und eine neue Form der Orientierung und vor allem die psychologische Sicherheit: „Ich darf führen!“. 

Vergleichbar ist das mit einer Jazzband im Gegensatz zu einem Orchester. Bei einem Orchester geben einige wenige, allen voran der:die Dirigent:in, den Ton an. Jede:r beherrscht ein Instrument, alle harmonieren im Zusammenspiel, das Repertoire sitzt und variiert nur von Spielzeit zu Spielzeit. Dank eines durch Expertinnen im Bereich Organisationsentwicklung angeleiteten Prozesses wurde uns bei smartsteuer klar: Wir wollen das schon Dagewesene nicht einfach nur immer wieder zur Aufführung bringen und uns hier und da verbessern. Wir wollten – im übertragenen Sinne – nie Gehörtes spielen, also: den Raum für Innovation schaffen und die freie Entfaltung jedes Teammitglieds ermöglichen. Eben im Stile einer Jazzband, mit situativen Führungswechseln. 

Es mag nun etwas kontraintuitiv klingen, aber: Um in einer auf Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit ausgelegten Organisation zu arbeiten, sind eine klare Vision sowie klar definierte strategische Ziele unabdingbar. „Purpose“ darf dabei nicht einfach nur ein weiterer, ähnlich wie „New Work“, nebulöser Begriff sein, sondern ist das Bindemittel, um das Selbst mit dem Wir zu verbinden. 

Unter den Bedingungen der Pandemie ist es ungleich schwieriger geworden, Organisationen handlungsfähig zu machen. Während die Arbeit im Homeoffice – die zusätzliche Belastung durch Homeschooling & Co. einmal ausgenommen – mitunter produktiver ist, fehlen zunehmend Momente, in denen Teams durch zufällige Gespräche im Büro neue Ideen entwickeln. Gleichzeitig ist klar: Das Büro, wie wir es kennen, wird nicht mehr gebraucht. Reine Schreibtischflächen müssen ersetzt werden durch Flächen, auf denen Mitarbeitende aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam auf Ideen kommen und Konzepte erarbeiten können. Oder anders: Das Büro als reiner Arbeitsort, der die nötige Infrastruktur wie Drucker, Kopierer oder andere Arbeitsmaterialien bietet, wird abgelöst durch ein Büro, das als Begegnungsstätte, ja: Eventlocation, dient. Schließlich klingt Jazz live immer noch am besten. 

Mit Sicherheit werden auch hier wieder Zweifelnde sagen, dass doch eigentlich alles gut war, wie es war, und dass Büros die Tempel der Produktivität seien – so wie Führungskraft eine Gottesgabe für einige Wenige ist. Vielleicht aber lassen sie sich die Zweifel auch einfach wegjazzen.


Der Beitrag erschien in ähnlicher Form auch bei Die Wohnungswirtschaft.


Gabriel Rath

Host NEW WORK CHAT PODCAST ✪ Organizational Development @ SPARKASSE ✪ Speaker FUTURE OF WORK ✪ Co-Founder der Social Crowdfunding Initiative EISBADEMEISTERS 💯

3 Jahre

Moin Björn, du schreibst: "Doch anstatt das innerhalb eines hierarchisch modellierten Systems zu tun, braucht es neue Elemente in einer auf Selbstverantwortung basierenden Organisation. Elemente, die jede:n dazu befähigen, genau das zu tun, was er:sie wirklich, wirklich wollen – und können." Ich frage mich allerdings, ob das der Zweck von Unternehmen ist. Das was ICH wirklich wirklich will (F.B. RIP) erstreckt sich aus meiner Sicht erstmal auf MEIN Leben, in dem Arbeit eine große und auch wichtige Rolle spielt. Unternehmen haben aber doch die Aufgabe, Kundenprobleme zu lösen und dafür zu sorgen, dass die Problemlöserei von Mitarbeitenden übernommen wird, die hier Stärken haben. Wir haben das Recht und auch die Pflicht, etwas aus uns und unserem Leben zu machen. Selbstbestimmt. In Freiheit. Wir können anheuern, kündigen, gründen. Es ist leichter denn je. Aber Unternehmen? Die sollen ihren Zweck erfüllen, also zB die besten Brötchen der Stadt backen. Ich muss nun für mich schauen, ob ich dort arbeiten will - oder nicht. Natürlich sollten Unternehmen mehr Transparenz u Mitbestimmung der Mitarbeitenden ermöglichen - aber nicht aus Spaß an der Freude, sondern um die Wertschöpfung für den Kunden zu erhöhen.

Mario Kestler

Entwicklungserleichterer | Geschäftsführer Haufe Akademie | Marketing, HR & Operations

3 Jahre

Schöner Vergleich, Björn: Führen und Folgen im dynamischen Wechsel

Tobias Freudenreich

Independent Product Leadership Coach & Consultant // Podcast-Host produktmenschen.de // Co-organizer of ProductTank Hamburg // Co-moderator of Product At Heart

3 Jahre

Jazz, Jazz, Jazz.

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