Nr.2 | Einstiegsdroge Bilderbuch?

Nr.2 | Einstiegsdroge Bilderbuch?

Dies ist ein Fragment aus meiner persönlichen Textsammlung "Virtualität, Subjektivität und Authentizität im 360°-Film"

Der Impuls zu diesem Abschnitt entstand, als ich meine jüngere Tochter (2,5 Jahre alt) beim Anschauen eines Bilderbuchs beobachtete. Sie schaute sich eine Bildergeschichte in einem alten Kinderbuch an, welches den Alltag einer Familie mit zwei Kindern sehr detailliert darstellt. Das Buch ist schon etwas älter (Eva Scherbarth, 1975 „Das sind wir“) und tauchte wahrlich ein, in diese irgendwie fremde, aber doch ganz vertraute Welt, in der manche Dinge unbekannt waren und sie Anderes aber sofort wieder erkannte.

Wie sie so in dieses Buch vertieft war, und ich dies mit großer Freude beobachtete, fragte ich mich, ob dies nicht eigentlich auch schon eine virtuelle Welt ist, in die sie da gerade eintaucht und ob ich nicht, gemessen an meiner Skepsis und Kritik gegenüber Bildschirmmedien, auch dieses Eintauchen schon hinterfragen müsste und womöglich doch gar nicht so positiv bewerten dürfte. Ich fragt mich also: warum kommt niemand auf die Idee ein Bilderbuch und eine VR-Brille gleichzusetzen, bzw. ein Buch als Einstiegsdroge für die Virtual Reality zu sehen?

Zuerst einmal beobachtete ich sie weiter und stellte zwei, wie mir scheint, wichtige Besonderheiten fest.

Erstens war ihr sehr wichtig, dass sie das Buch entweder auf meinem Schoß oder auf dem Schoß ihrer Mama anschaute. Sie musste vorher unbedingt auf einen von uns klettern, um dann an die Brust gelehnt, das Buch zu geniessen. Und währenddessen sprach sie auch immer wieder Dinge an, die sie kannte und deutete darauf. Als sie noch jünger war, versuchte sie auch Gegenstände auf den Buchseiten zu greifen, doch inzwischen hatte sie gelernt, wie Bilderbücher funktionieren und begeht diesen „Fehler“ nicht mehr. Es war ihr also scheinbar wichtig, dieses Erlebnis gemeinsam mit wenigstens einem von uns zu haben und auch das Erlebte wiederum mit uns zu teilen.

Ein noch stärkerer Ausdruck dieses Teilens war, und das ist der zweite mir wichtige Punkt, dass sie bei manchen Gegenständen, die sie auf den Bildern sah aufsprang, um die gleichen Gegenstände bei uns zu holen und in der Hand zu halten, bzw. auch zu benutzen. Es fand bei ihr also eine Rückkopplung in die reale Welt statt, die soweit ging, dass wir mit dem Schirm raus in den Regen gingen um das Gesehene mit einer realen Erfahrung zu untermauern.

Diese Beobachtung ist mir wichtig, weil ich mich frage: wo fängt die Virtualität an, wo hört die Realität auf. Hat nicht schon Cervantes mit seinem Don Quijote vor dem Abgleiten in die Fantasiewelten der Ritterromane warnen wollen? Für uns heute klingt das höchsten noch niedlich, Romane als Gefährdung des Realitätsbezugs zu betrachten. Aber es ging ja weiter: Musik aus der Konserve, Photos, Filme, Fernsehen, Serien, Computerspiele. Wir haben uns im Laufe der Geschichte der Medien langsam aber stetig an immer mehr Virtuelles in unserem Alltag gewöhnt. Und im Laufe der Zeit akzeptieren wir immer ein Stück mehr und empfinden es als normal. Im Moment steht wieder etwas Neues an. Noch finden wir es befremdlich, dass sich jemand mit VR-Brille lange Zeit in den Cyberspace verabschiedet oder sich damit gar in der Öffentlichkeit aufhält. Einen Kinosaal voller Menschen mit solchen klotzigen Brillen auf der Nase, finden wir recht albern. Noch! Wir werden uns auch daran gewöhnen und das gar nicht mehr so sonderbar finden. Aber reicht es denn, wenn wir die Akzeptanz neuer medialer Virtualität mit der Gewöhnung legitimieren? Ich frage mich ob wir uns da Schritt für Schritt sukzessive aus dem Hier und Jetzt verabschieden, uns immer weiter in künstliche Welten bewegen und den Realitätsbezug verlieren. Sollten wir das, was uns normal erscheint, nicht noch einmal mehr hinterfragen? Sind wir da auf dem Weg in die richtige Richtung?

Deswegen frage ich mich: wo fängt das an? Ist nicht eine Höhlenmalerei und dann jedes weitere Gemälde der Anfang, jede erzählte Geschichte, jedes Märchen eine Fortführung dieser Entwicklung? Liegt darin etwas ureigen Menschliches, etwas das wir dringend brauchen? Und wohin führt das dann? Selbst meine Kinder, die nur äusserst selten Bildschirmmedien zu sehen bekommen, haben schon allein durch ihre vielen Kinderbücher einen ganz anderen Start ins Leben, als Kinder vor ein paar hundert Jahren oder an vielen anderen Orten auf der Welt. Wie viele Kinder sehen bei uns zuerst Tiere in Büchern (und auf Bildschirmen), bevor sie ihnen in der Wirklichkeit begegnen? In wie vielen Bereichen meiner eigenen Schul-, Aus- und Hochschul-Bildung kam zuerst die Abstraktion, die Theorie, das bereits medial transformierte und aufbereitete, bevor (wenn überhaupt) der Zugang über die Praxis folgte? Ist da nicht etwas verkehrt herum? Man kann klar sagen, Virtualität gehört zu unsere westlichen Realität dazu.

Was braucht es dann, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren? Um das Virtuelle gesund zu integrieren? Das Wort Medienkompetenz klingt mir da ein wenig zu trocken. Für mich ist es das allein nicht, für mich ist die (positive) Rückkopplung in die wirkliche Welt entscheidend, dass das Medium eine Bereicherung für das Leben ist. Deswegen kann ich das Feld auch nicht einfach dem Entertainment überlassen, weil ich nicht glaube, dass die Flucht in exotische, aufregende Welten und Abendteuer die Daseinsberechtigung von Medien begründet. Es geht doch nicht nur um Betäubung vom Alltag, sondern um Herausforderung, Inspiration und Impulse, um das Hinterfragen und um Horizonte zu erweitern. Wir brauchen Medien, die den Rezipienten aktivieren und nicht einlullen, auch wenn der Markt etwas anderes suggerieren will. Doch wie das gelingen kann, ist nicht einfach zu beantworten. Schulmeisterliche Agitation kommt nicht in Frage, selbst das hoch gelobte emotionale Berührt-Werden ist noch lange nicht die Lösung. Wie dies aussehen kann und ob 360°-Filme dazu einen Beitrag leisten können, versuche ich zu ergründen.


Anke Bebber

Queen of storytelling. 👑

6 Jahre

Schöne Worte, spannende Gedanken, richtige Fragen. Virtuelles ist für mich oft Mittel zum Zweck, weil Arbeiten in Online-Medien. Für meine Kinder, die glücklicherweise in einer sehr guten (und damit meine ich unter anderem medienoffen) Schule lernen dürfen, sind virtuelle Welten Teil des Alltags, aber sie nutzen Virtuelles nicht nur zum Konsumieren, sondern finden Inspiration fürs Weiterlernen. Das Rückkoppeln mit der Realität ist mit 13 Jahren sicher ein anderes als mit 2,5. Aber Dein Gedanke, ob einfache Bilderbücher nicht schon eine erste Abstraktionsebene sind, gefällt mir. Wahrscheinlich ist die Flucht in digitale Welten deswegen so leicht und verführerisch. Sie baut auf allererste Erfahrungen auf.

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