Governance der Zeitenwende

Governance der Zeitenwende

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Politik zu einer radikalen Neubewertung der Gefahren im Bereich der äußeren Sicherheit und damit auch der strategischen Prioritäten gezwungen. Die erste Antwort der Bundesregierung auf diese Zeitenwende war ein 100 Milliarden Sondervermögen zur Wiederherstellung der seit Jahrzehnten vernachlässigten Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, das mit Unterstützung der Opposition durch eine Grundgesetzänderung ermöglicht wurde. Doch die Umsetzung bleibt in den bürokratischen Strukturen und Arbeitsweisen deutscher Politik und Verwaltung hängen. Ähnlich wie in der Vergangenheit bereits andere politische Projekte von hoher Priorität.

Öffentliche Projekte in Deutschland liefern oft nicht die von der Politik versprochenen und von den Bürgern erwarteten Ergebnisse und stehen daher seit Jahrzehnten in der Kritik: Infrastrukturprojekte, die Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung schaffen, Rüstungsprojekte zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit, aber auch politische Programme, welche die Zukunft Deutschlands nachhaltig gestalten sollen, wie die Energiewende oder die Digitale Verwaltung. Die Herausforderungen wachsen. Sich wechselseitig verstärkende Krisen in den Bereichen Klima, Geopolitik, Migration und gesellschaftlicher Zusammenhalt steigern die gesellschaftliche Komplexität und Unsicherheit.

Die Multikrise neuer und bekannter existenzieller Risiken stellt eine große Bewährungsprobe für die Gestaltungsfähigkeit demokratischer Staaten dar. Bürger zweifeln an der Fähigkeit demokratischer Politik, Zukunft zu gestalten. Autoritäre Systeme und Parteien verweisen auf ihre angebliche Überlegenheit durch ihre Macht-Hierarchie, die rasche Entscheidungen und deren konsequente Umsetzung ermögliche.  Allerdings wird notwendige Lernfähigkeit nicht durch Macht-Hierarchien gefördert, die immer wieder durch dramatische Fehleinschätzungen auffallen, mit katastrophalen Folgen für Mensch und Natur. 

Gefordert ist die Fähigkeit zu einer demokratischen und lebensfördernden Multi-Missions-Politik, die auf alle Krisen rechtzeitig eine ausreichende Antwort gibt. Die Notwendigkeit, sich beschleunigenden Veränderungen anzupassen und zugleich strategische Ziele zu erreichen, ist heute nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Daher müssen Politik und Verwaltung die gewohnten bürokratischen Arbeitsweisen entlang definierter Zuständigkeiten und Prozesse durch neue Arbeitsweisen ersetzen, die sich an den strategischen Zielen orientieren und zugleich einen hohen Grad an Flexibilität und Lernfähigkeit ermöglichen.

Kulturwandel gegen Bürokratie und organisierte Verantwortungslosigkeit

In großen Behörden und Unternehmen haben sich bürokratische Organisationskulturen herausgebildet: Immer mehr Mitarbeiter und Organisationseinheiten sind nur für die Einhaltung und Perfektionierung von vorgegebenen Prozessen verantwortlich und nicht für Ergebnisse. Dies hat verheerende Auswirkungen: „Organisierte Verantwortungslosigkeit“.

Erfolgreiche öffentliche Projekte brauchen Vertrauen und Gestaltungsspielraum. Sie brauchen Entscheider und Manager, die auf Basis demokratischer Werte und Prinzipien kooperieren, Verantwortung übernehmen und auf der Grundlage von Erfahrungen pragmatisch entscheiden, die Risiken nicht scheuen, sondern adressieren, immer mit dem Blick auf den nachhaltigen Nutzen für die betroffenen Menschen und den Planeten. Sie brauchen eine angemessene Governance, klare Verantwortungsstrukturen und eine Kultur, die Selbstverantwortung, Performance und Qualität fördert. Wesentlich dabei ist die Klärung und Stärkung der Verantwortung der Entscheider in Politik und Verwaltung als Projekt-Auftraggeber und -Sponsoren. Die Priorisierung und übergreifende Steuerung der politischen Projekte erfolgt durch ein politisch verantwortetes Portfolio- und Programmmanagement.

Die bürokratische Organisation und Kultur der öffentlichen Verwaltung wird durch eine projektorientierte Organisation und Kultur ersetzt, d.h. ein gemeinsames Verständnis der Herausforderungen und Risiken, klare gemeinsame Ziele und klare Verantwortung für die Zielerreichung. Projektorientierte Kultur fördert die notwendige Zusammenarbeit: „Alle für die gemeinsame Sache“ statt „Jeder an seinem Platz“. Dieser Kulturwandel muss vor allem in den Führungsebenen der Politik und der Verwaltungen gelebt werden. In Bezug auf die Herausforderungen der Zeitenwende ist die Kooperation aller demokratischer Parteien dringend erforderlich.    

Um der zunehmenden Komplexität und Unsicherheit beschleunigter globaler Entwicklungen und sozialer und ökologischer Systemkrisen nachhaltig zu begegnen, sind adaptive Vorgehensweisen erforderlich. Diese fördern Lernen und Selbstorganisation und gehen mit Komplexität kreativ um, anstatt sie zu reduzieren. Daraus ergeben sich Chancen für innovative Lösungen.

Die Zeitenwende erfordert einen neuen Politik- und Managementansatz. Statt Machtpolitik mit bürokratischer Organisation braucht es missionsorientierte Politik mit einer projektorientierten Organisation und Kultur der Zusammenarbeit. Deren Grundlage ist ein gemeinsamer Blick in den Abgrund der Gefahren für unsere Demokratie, für den Frieden in Europa und für das Leben auf unserem Planeten.

Christian Bernert

Director of LPM Academy, Problems are the sources for solutions. Metropolregion EFN

9 Monate

Norman, ein wertvoller Ansatz, der zu einer tiefergreifenden Analyse anregen sollte. Vorausschicken möchte ich, dass WIR es sind, die wir uns über Jahrzehnte in einer Wohlstandsgefälligkeit eingerichtet haben. Diese Wohlstandsgefälligkeit habe wir uns aber von Anfang an nur durch geschickte Ausbeutung der Schwächeren leisten können. Diese doch so bequeme, teils schwer erkennbare Ausbeutung, fällt uns so langsam auf die Füße. Nicht zuletzt auf Grund des Zusammenbruchs der Globalisierung aber auch auf Grund der Rückbesinnung einer Minderheit zu ethischen Werten. Diese Wohlstandsgefälligkeit hat uns aber nicht wirklich ein erfülltes Leben beschert, denn wir haben uns diese Wohlstandsgefälligkeit nur durch einen kontinuierlichen einstudierten Kaufrausch aufrecht erhalten. Jetzt, wo wir über unsere jahrzehntelangen eingeübten Handlungsweisen nachdenken sollen, fällt uns nicht nur der Verzicht darauf schwer, sondern auch neue Denk- und Handlungsansätze zu einem erfüllten Leben. Damit stellt sich aber auch zwangsläufig die Frage, ob die heutige "soziale" Marktwirtschaft überhaupt geeignet ist, dieses Umsteuern zu ermöglichen.

Guido Bacharach

Co-Founder at Netzwerk Digitale Nachweise

9 Monate

Als Manifest und Aufruf sehr gut. Auch der Analyse stimme ich bei. Nur wie zu diesem Ziel eines agilen und projektorientierten Staates kommen? Lassen wir mal die Veränderung der Strukturen und Prozesse, die nicht einfach aber machbar wären, beiseite. Wir haben uns jahrzehntelang Personal in dieser regelorientierten Bürokratie großgezogen, die so einfach nicht auf agil und projektbezogen umzuschulen sind. Leute, die nicht für Flexibilität und cross-border Denken sondern für Verlässlichkeit bezahlt wurden. Was machen wir mit denen? Und wo bekommen wir mit dem jetzigen Fachkräftemangel die neuen flexibleren Leute her?

Uwe Haass

Senior Consultant bei RoboConsult

9 Monate

Danke, Norman, für diesen wertvollen Beitrag. Interessant, dass sich die aktuelle Wochenendausgabe von The Economist mit dem Thema "Westliche Werte" befasst - z.B. dass wir früher geglaubt haben, dass Wohlstand ein Argument für diese Werte sei, und zwar weltweit. Offenbar ist dieser Automatismus nicht mehr der Fall. Autokraten versprechen Sicherheit. Die Autoren plädieren dennoch für eine grenzüberschreitende Rettung der "Werte".

Franz-Reinhard Habbel

Publizist & Geschäftsführer bei HABBEL GmbH

9 Monate

Guter Beitrag, dem ich 100-prozentig zustimme.

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