Relevanz von Marketingfirlefanz

Relevanz von Marketingfirlefanz

Mein Self-Check - Lesezeit ca. 5 Minuten

Wir Destinationsmarketing-Experten glauben, dass wir mit unserer Arbeit Gäste werben können und merken nicht, dass wir meist wirkungslosen Marketingfirlefanz verzapfen. 😊 😊 😊 Das ist meine augenzwinkernd-zugespitzte Zusammenfassung der frech-mutigen Thesen des St. Gallener Professors Pietro Beritelli, mit denen er kürzlich auch den Deutschlandtourismus herausforderte.

Liebe Destinationsmarketing-Kolleg*innen im DACH-Raum: Lassen wir das so stehen? Flüchten wir uns stillschweigend in unsere Destinationsmanagement-Funktion? Stimmen wir gar heimlich zu und verweigern die Diskussion? Ich persönlich fände das schade. Wir vergeben uns die Chance, eigene Positionen zu schärfen, und dort, wo er recht hat, uns deutlich infrage zu stellen. Schon nach Erscheinen der Argumentation im schweizer Jahrbuch im Februar reizte es mich zum Widerspruch. Anlässlich der Aufmischung des Deutschen Tourismustags des DTV´s habe ich jetzt einen Self-Check meiner Arbeit durchgeführt und ausformuliert: Vier Widersprüche und eine Vollzustimmung - mit Praxiserfahrung und Bauchgefühl.

Widerspruch 1: Destinationsmarketing war schon immer Relevanz-bestimmt

Die Entscheidung, eine Destination in einem Land/einer Region/bei einer Zielgruppe zu bewerben fiel nie aus dem Nichts. Unser Destinationsmarketing setzt stets erst ein, wenn die Huhn-Ei Problematik bereits geklärt ist. Übernachtungsstatistiken und mit der Zeit immer aufwendigere Potenzialanalysen identifizieren uns seit Jahrzenten die vielversprechendsten Märkte und Zielgruppen. Vollkommen richtig: Destinationsmarketing kann nie alleinig eine wachsende Gästezahl produzieren oder aus dem Nichts eine Destinationsrelevanz als Reiseziel positionieren. Nicht richtig: Destinationsmarketing kann sehr wohl durch Marktforschung identifizierte positive Entwicklungen beschleunigen. Es kann Impulse für die Reiseentscheidung geben dort, wo das Interesse bei potenziellen Gästen durch andere Einflussfaktoren bereits geweckt ist. Ein Beispiel hierfür ist die Erfolgsgeschichte des Destinationsmarketings für Norddeutschland in der Schweiz. In den 90er Jahren waren wir ganze zwei norddeutsche DMO´s, die - angeregt durch steigende Gästezahlen – die positive Entwicklung anfänglich begleiteten. Mittlerweile sind es geschätzte 30 norddeutsche DMO´s, die mit immer mehr Leistungsträgern immer mehr schweizer Gäste gewinnen. CityNightLine-Verbindungen bis nach Rügen, Flugverbindungen nach Sylt, Usedom und Rostock sowie immer stärkere Norddeutschland-Präsenz bei Veranstaltern und Medien wurden durch die DMO´s maßgeblich angeschoben.

Widerspruch 2: Destinationsmarketing ist erfolgreich, wenn es relevant ist

Präsenz und Kommunikation haben einen Einfluss auf die Reiseentscheidung, wenn sie relevant sind, d.h. wenn sie zur richtigen Zeit im richtigen Markt bei der richtigen Zielgruppe ankommen. Wenn sie auf Inspirationsbereitschaft, Informations- oder Buchungsbedürfnis treffen. Es  geht hier nicht um ein Mehr, sondern eher um ein zu wenig oder das komplette Fehlen von Präsenz zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. 

Vollkommen richtig, wir haben es mit einer Portfolio-Entscheidung zu tun. Die Customer Journey ist zudem kein linearer Prozess, sondern ein ständig zwischen den einzelnen Phasen hin und herspringendes und kontinuierliches Geschehen. Umso mehr wundert es mich, dass Professor Beritelli den Antiquariats-Mythos wieder rauskramt vom einen Prozent, das seine Reiseentscheidung auf einer Messe trifft. Nicht richtig: Der Messekontakt mag nur einen kleinen Ausschnitt des Einflussfaktoren-Portfolios abdecken. Er gibt Messegästen aber häufig einen Impuls: Vor etwa 10 Jahren war „Spreewald“ in der Schweiz noch ein Fremdwort. Die verstärkte Wahrnehmung des Spreewalds bei schweizer Reisenden wurde auch nicht von uns ausgelöst – dabei kamen uns u.a. die auch in der Schweiz gesehenen Spreewald-Krimis im TV zur Hilfe. Das Interesse ist jetzt geweckt, und mit Tipps zu Unterkünften und Aktivitäten konnten wir schon häufig Informationsbedürfnisse befriedigen und so wesentliche Impulse für eine mögliche Reiseentscheidung geben.

Mag bei solch undigitalem Oldschool-Marketing die Messbarkeit auch zugegebenermaßen unbefriedigend sein, umso deutlicher wird die Relevanz-Ausprägung mit der Messbarkeit des Onlinemarketings: Trackings, Funnel, Conversions, Sales-Leads... Wie man mit dem richtigen Tracking zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort einer Booking Engine an Barcelona interessierte Städtereisende zu einer tatsächlichen Buchung von München umleitet, dazu gibt es beachtenswerte Präsentationen bei der @Deutschen Zentrale für Tourismus. Und natürlich liegt hier das Zukunftspotenzial des Destinationsmarketings, das immer passgenauer beim Big-Data-prognostizierten Gast platziert werden kann: „Entschleunigte Paare aus Bern, die per Velo auf dem Bodenseeradweg unterwegs waren, fuhren in den nächsten Ferien auch auf dem Havelradweg. Just place your Banner HERE“ 😉.  

Widerspruch 3: Social Media-Kommunikation ist relevant – es fehlt jedoch am Gespür

Gefühlte 80% der Deutschland-Touristiker haben m.E. Social Media noch immer nicht richtig verstanden. Warum ich glaube, hier einen Gespür-Vorsprung zu haben, ist nachzulesen hier unter: „Facebook veränderte mein Leben“

Social Media sind originär KEINE Werbe- und Kommunikationsplattform für Konsummarken und Destinationen. Ihr Wesen liegt im Persönlichen und im Privaten. Die Präsenz von Destinationen mit eigenen Seiten muss genau das berücksichtigen und hier mit Gespür aufsetzen. Völlig richtig: Das läuft auch ganz ohne die Destinationsseite oder ohne eigenen Instagram-Hashtag. Nicht richtig: Das läuft ebenfalls initiiert durch die Destinationskommunikation, wie unsere polnischsprachige Facebookseite gezeigt hat, auf der immer wieder Fans ihrem persönlich-privaten Netzwerk per Teilen oder Kommentar zeigten: „Byłem – polecam - warto“ (Ich war dort und kann das empfehlen). Durch die SoMe-Kommunikation der Destination werden hier die Gäste tatsächlich zur Eigenkommunikation befähigt, wie von Herrn Beritelli empfohlen. Oder  treffender: Sie werden durch die Destinationskommunikation angeregt, selber Empfehlungs-ähnlich zu kommunizieren. Inzwischen sind allerdings Facebook-Gruppen die relevanteren Fanforen. Ein Best Practice Beispiel aus meinem Umfeld ist hier die polnische Gruppe zum Lebuser Land Niesamowite Lubuskie 

Widerspruch 4: Die richtigen Fragen gibt es nicht. Nur mehr oder weniger relevante

Wir müssen nur die richtigen Fragen stellen und schon ziehen wir die richtigen Schlüsse. Ist es wirklich so einfach? Ist es nicht! Beispiele irrelevanter Fragestellungen gibt es unzählige. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele, passend zu meiner bisherigen Argumentation.

Beispiel 1: „Auf die Reiseentscheidung haben die Aktivitäten von DMOs in Social Media laut DESTINATION BRAND by inspektour kaum eine Wirkung“ https://bit.ly/2ovNQVz. Wer würde eine Frage wie „Hat die Präsenz eines Reiseziels in Social Media Kanälen Relevanz für Ihre Reiseentscheidung?“ nicht spontan als nachrangig einstufen? Anderenfalls müsste man ein meisterlicher Beobachter seiner selbst sein und sich tiefer liegender Social Media Nutzungs- und Inspirationsrelevanzen voll bewusst sein. Relevante Fragen hätten also eher lauten müssen: „Schauen Sie sich Urlaubspostings Ihres Netzwerks auf Social Media-Accounts an?“ „Wie wichtig an Ihren Reisezielen sind Ihnen attraktive Fotomotive, die Sie auf Instagram und Co posten können?“ „Haben Sie eine Destinationsseite gelikt und wenn ja, warum?“ Vielleicht nicht ganz treffsicher, aber Im Titelbild dieses Artikels ist ein weiterer Beleg zu sehen. Nämlich, wie die DMO von Boltenhagen mich selbst dazu brachte, meinen persönlichen Facebook- und Instagram-Kontakten zu zeigen, dass ich dort meinen Herbsturlaub verbringe 😊. Beispiel 2: Herr Beritelli stellte diese, m.E. weniger relevanten Fragen zur Bedeutung des Messebesuchs für die Reiseentscheidung: „Sind Sie schon einmal für Ihre Reiseplanung an eine Reisemesse gegangen? Wenn Sie an einer Urlaubsmesse waren, haben Sie auch Dokumente mitgenommen, mit denen Sie eine Reise gebucht haben? Wenn ja, war es aus einem Stand einer DMO oder eines Reiseveranstalters, der konkrete Angebote anpries?“ Die Nein-Antworten leuchten hier sofort ein, zumal mir kaum ein Touristiker bekannt ist, der selbst privat auf eine Reisemesse gehen würde. Um die tatsächliche, wahrscheinlich doch weit höhere Relevanz eines Messebesuchs für die Inspirations- Informations- Buchungsphase herauszufinden (Achtung Portfolio-Entscheidungskette), hätte man wohl eher etwas fragen müssen wie: „Warum besuchen Sie die Messe?“ „In wieweit haben bisherige Messebesuche zu Ihren Reiseideen, Reisezielauswahlen, Reiseplanungen oder Reisebuchungen einen Anstoß gegeben?“

Zustimmung 1: Die Überschätzung von Destination Branding

Ja zugegeben: Es gibt so einige Punkte, bei denen ich Herrn Beritelli zustimmen kann. Ich beschränke mich aber auf eine Punkt, der mich mindestens genauso zur Zustimmung reizt wie die obigen Widersprüche. Der Glaube, eine Destinationsmarke aufbauen zu können, ist eine ziemliche Überschätzung unserer Möglichkeiten als DMO. Eingebrannt hat sich mir hier die Veranschaulichung des Unterschieds zwischen Tourismusmarketing und Konsumgütermarketing durch meinen Heilbronner Professor Georg Bleile: „Tourismusmarketing ist Gemeinschaftsmarketing. Ein Konsumgüter-Unternehmen wie Unilever kann von heute auf morgen entscheiden, dass seine Seifenmarke Dove ab morgen grün statt weiß sein soll…“ Egal wie sehr wir uns auch um Markenbildung bemühen, Brandenburg - oder auch spitzer - Radfahren in Brandenburg wird für immer „bunt“ bleiben 😊. Und weiter: Wenn es um den Aufbau von Destinationsmarken geht, unterschlagen wir gerne das kleine Wörtchen „touristische“. Touristische Aspekte sind im Markenkern der wenigen tatsächlich existierenden  Destinationsmarken meist nachrangig. Keine Chance, touristische Aspekte so stark zu profilieren, dass eine Reisedestination als Marke wahrgenommen wird.

Profilierung statt Markenbildung! Es reicht hier aber schon eine verbale Abrüstung aus. Der Prozess der gemeinschaftlichen touristischen Profilierung, Produktentwicklung und Steuerung ist wichtig und seine Sinnhaftigkeit braucht keineswegs infrage gestellt zu werden.

Soweit mein Kommentar zu Mythen und Relevanzen des Destinationsmarketings. Und damit zurück in den Arbeitsalltag. Wäre aber spannend, hier noch weitere Meinungen zu hören und die von Herrn Beritelli gewünschte Diskussion in Gang kommen zu lassen. 

#deutschlandtourismus #schweiztourismus #österreichtourismus

🌍 Martin Fennemann

DMO-Sparringspartner - Linkedin-Beratung im Deutschlandtourismus - Freelance Projektmanagement bei Fennemann-Freelance - #gerneperdu

4 Jahre

...und jetzt auch im Newsletter des BVDIU. Danke an Sebastian Worel und Tobias Reinsch.

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Chris Probst

Key Account Manager Schools & Groups Parques Reunidos German Hub (Tropical Islands, Belantis Leipzig und Weltvogelpark Walsrode)

4 Jahre

Sensationell geschrieben!

🌍 Martin Fennemann

DMO-Sparringspartner - Linkedin-Beratung im Deutschlandtourismus - Freelance Projektmanagement bei Fennemann-Freelance - #gerneperdu

4 Jahre

Und gestern auch im TN Tourismusnewsletter :-).

  • Kein Alt-Text für dieses Bild vorhanden
🌍 Martin Fennemann

DMO-Sparringspartner - Linkedin-Beratung im Deutschlandtourismus - Freelance Projektmanagement bei Fennemann-Freelance - #gerneperdu

4 Jahre
Stephan Amstad

Exhibition Manager FESPO - World of Travel

4 Jahre

Sehr spannend die Argumentation. Ich als Reisemesse Organisator kann wieder vermehrt aufzeigen das Destinationen den direkten Kontakt suchen und auch entsprechend die Messen in diesem Falle die FESPO besuchen. Es geht nicht um die Grösse des Standes sondern um den Inhalt und die Präsenz von Spezialisten welche die Destination mit Herzblut repräsentieren. Der Zusammenschluss von Leistungsträgern und Destinationen können so auch die gewissen Erfolge aufzeigen und rechnen. Der Name Messe ist vielleicht veraltet aber schlussendlich sprechen wir von Live Communication und die will der Kunde weiterhin auch im Zeitalter der Digitalisierung. Wir haben keine Rückläufe zu vermerken sondern mussten sogar Absagen erteilen. 

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