Schwarmorganisation zur Bewältigung der Digitalisierung?
Grafik: Martin Holle

Schwarmorganisation zur Bewältigung der Digitalisierung?

Wie fühlt es sich wohl an, Teil eines Schwarms aus 56.000 Mitgliedern zu sein?

Die Mitarbeiter von Daimler könnten dies laut diesem Artikel in der FAZ Online demnächst beantworten. Und auch die Frage danach, ob es sich bei der neuen Organisationsform bei Daimler eher um einen Bienenschwarm mit einer Königin an der Spitze handelt, einen Schwarm Fische beim Synchronschwimmen oder einen Schwarm von Staren, die in perfekter Koordination ihre Flugmanöver vollbringen.

Was Daimler plant, wird klarer, wenn man andere Quellen hinzuzieht, z.B. ‚Mit der "Schwarm-Organisation" auf den Premium-Thron’ im Handelsblatt, ‚Daimler setzt auf Schwarmorganisation’ in der Wirtschaftswoche oder auch ‚Daimler als Pionier - Autonome Schwarm-Organisation heißt das neue Zauberwort’ auf wallstreet online. Zu insgesamt 30 Themenfeldern sollen sich die Mitarbeiter in dieser Schwarmorganisation auf Dauer in autonomen Teams zusammenfinden und vernetzt miteinander agieren: abteilungsübergreifend, projektbezogen und interdisziplinär; Entscheidungsprozesse dürfen maximal über zwei Ebenen laufen.

Ganz weit vorne?

Das sind keine wirklich neuen Ideen, wie auch schon der FAZ-Artikel anmerkt; stattdessen enthält er eine bemerkenswerte Zusammenstellung von Hype-Begriffen. Bei „Schwarmorganisation“ bzw. „Schwarmintelligenz“ hatte ich angenommen, dass der Zenit dieses Hypes bereits überschritten sei. Ein Schwarm eignet sich auch nicht gut als Metapher: Fisch- oder Vogelschwärme bewegen sich synchron und perfekt abgestimmt und werden dabei durch einen einfachen Mechanismus gelenkt: der Orientierung an den direkten Nachbarn. Dies dient dem immer gleichen Zweck: der Bewegungskoordination des ganzen Schwarmes. Interaktion, Kommunikation und Koordination in menschgemachten sozialen Systemen sind wesentlich vielschichtiger und vielfältiger. Und steht Orientierung an den direkten Nachbarn nicht eher für Konformismus? - Der ist sicher nicht intendiert. Der Grundgedanke ist wohl, flachere Strukturen und mehr Selbstorganisation zu fördern - statt „Command & Control“ in einer strikten Hierarchie.

„Agil“ ist ein naheliegender Begriff dafür und wird im Artikel im Zusammenhang mit der neuen „Digitalfabrik“ der Deutschen Bank erwähnt. Ein wichtiges Thema in der agilen Welt, das sich auch bei der von Daimler geplanten Größenordnung aufdrängt, ist die Frage, wie sich agile Methoden skalieren lassen. Ein agiles Team hat eine Sollgröße zwischen 5 und 9 Mitgliedern. Bei Daimler wären es um die 7.000 Teams, die sich koordinieren sollen. Neben der klassischen Antwort von Scrum, dem „Scrum of Scrums“ – eine Meta-Ebene über den Teams mit Delegierten aus den Teams, auch mehrstufig denkbar – gibt es mittlerweile einige konkurrierende Frameworks mit mehr oder weniger rigiden Strukturen, Regeln und Prozessen. – Ich teile die Neugier des Bielefelder Organisationssoziologen Stefan Kühl, die er im Artikel äußert: Es wäre schon sehr interessant zu erfahren, wie bei Daimler interne Strukturierung, Koordination und Führungsmechanismen der „Schwarmorganisation“ konkret umgesetzt werden.

Der Druck auf etablierte Unternehmen und die Angst vor neuen Herausforderungen durch Startups scheint groß zu sein. Ich glaube aber nicht, dass Stefan Kühl mit seiner Einschätzung Recht hat, dass es sich bei den im Artikel erwähnten Maßnahmen um reine Öffentlichkeitsarbeit großer deutscher Unternehmen  handelt - teilweise sicher schon. Diese Ankündigungen wirken aber auch in die Unternehmen hinein. Dem muss in der Organisationspraxis etwas Entsprechendes folgen, das Potential entwickelt, den äußeren Bedrohungen etwas Inneres entgegenzusetzen.

Und wir Analogen?

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Was bedeutet das eigentlich für die betroffenen Mitarbeiter?

Torsten Biemann, Professor für Personalmanagement aus Mannheim bemerkt dazu:

"Am besten sind hochmotivierte und sehr kompetente Mitarbeiter, die sich in einer solchen Netzwerkstruktur gut zurechtfinden."

Die Orientierung in diesem komplexeren System gerät für diejenigen, die ja nicht zufällig bei Großunternehmen wie Daimler oder der Deutschen Bank mit ihren etablierten Hierarchien und geordneten Prozessen arbeiten, zur Herausforderung. Vorher bewährte Bewertungsmaßstäbe, Denkmuster und Handlungskonzepte sind in Frage gestellt, was zukünftig gilt, wird zunächst zu verschwommen sein, um Halt und Identifikation zu bieten.

Was geschieht mit durchschnittlich motivierten oder nur einigermaßen fachlich kompetenten Mitarbeitern? Dürfen die in der neuen Organisationsform mitspielen? Stellt die Aufwertung der neuen Schwarmorganisation nicht auch implizit eine Abwertung der jetzigen Arbeitsformen und der Menschen, die dort verbleiben, dar? Wie sieht es um die Anschlussfähigkeit der neuen Organisationsformen an den Rest des Unternehmens aus?

Auch in der agilen Gemeinde existiert übrigens eine Neigung, ständige Verbesserung des Einzelnen und des Teams zu propagieren und Höchstleistung anzustreben. Das agile Manifest setzt hingegen darauf, ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten zu können und spricht von „motivierten Individuen“ – langfristig die realistischere Perspektive.

Agil ist anders

Agile Methoden und Scrum sind im Mainstream angekommen. Oft allerdings nur aus vordergründigen Motiven, wie z.B. dem Employer Branding. Was in der Realität gelebt wird, ist eine andere Frage; Konzepte werden vielfach missverstanden.

"Und anders als früher sollten die Teams ihre neuen Produkte auch nicht durch unzählige Testzyklen laufen lassen. Schnell an den Markt sollten die Entwicklungen gehen - und notfalls nachgebessert werden, wenn in der Praxis Fehler auftauchten. Das kennt jeder Smartphone-Benutzer von seinen Apps."

So wird im Artikel der Vorstand für das Privatkundengeschäft der Deutschen Bank zitiert. – Das entspricht gerade nicht einem agilen Vorgehen bei der Software-Entwicklung und gab es früher auch, man nannte das: „Bananen-Software - reift beim Kunden“. Benutzer kann man schnell mit Fehlern vergraulen; es gibt ein Überangebot an Apps, kein Mensch muss sich mit schlechten Lösungen abfinden.

Agil ist anders: Nach klassischem Wasserfall-Entwicklungsmodell wird eine Software erst bis ins Detail ausspezifiziert, dann vollständig implementiert und schließlich in ausführlichen Tests geprüft – sie ist nach diesem länglichen Prozess oft schon bei der Einführung veraltet. Beim agilen Vorgehen geht es darum, so früh wie möglich die unverzichtbaren Funktionen zu realisieren und diese den Kunden zur Verfügung zu stellen. Die Benutzer haben von Anfang an einen Nutzen und können wertvolles Feedback für die Weiterentwicklung geben. Die Software wird inkrementell um die Funktionen erweitert, die von den Benutzern nachgefragt werden. Das Ziel dabei ist, die einzelnen Funktionen in guter Qualität herzustellen. Von schlechtem Handwerk ist nie die Rede, im Gegenteil: „Funktionierende Software“ ist einer der vier agilen Werte. Folgerichtig wird aus der agilen Bewegung heraus die testgetriebene Entwicklung propagiert, bei der die Tests sogar vor der eigentlichen Funktionalität definiert werden.

Bei „Fail fast“ oder „Versuch und Irrtum“ geht es – im Sinne von Lean Startup – darum, möglichst schnelles Feedback vom Kunden zu bekommen, ob eine Funktion oder ein Geschäftsmodell Anklang finden – oder auch nicht - und daraus Schlüsse für den nächsten Schritt zu ziehen. Dies ist in der Tat ein gravierender Paradigmenwechsel für deutsche Unternehmen und die verbreitete fehlerintolerante Haltung.

Was bedeutet das für die Organisationsberatung?

Stefan Kühls skeptische Haltung gegenüber Hierarchieabbau und Dezentralisierung finde ich bemerkenswert: Er befürchtet Politisierungs-, Komplexitäts- und Identitätsprobleme in Unternehmen, die dies beabsichtigen, und stellt gar ihre Führbarkeit in Frage.

Ich tendiere eher zu der Auffassung, dass es sich dabei um grundsätzlich zu lösende Schwierigkeiten und um Übergangskrisen handelt, für die nach gelungener Transformation Lösungen gefunden sind. Sicher: Solche Umgestaltungen sind risikoreich und können scheitern. Sie werden dies bei mangelhafter Umsetzung und inadäquater Begleitung mit großer Wahrscheinlichkeit auch tun.

Setzen die im Artikel genannten Unternehmen ihre Absichten wie beschrieben um, so bedeutet das einerseits weniger Arbeit für Unternehmensberater – eine erstaunliche Tendenz zum Insourcing von Strategie- und Innovationsprozessen.

Andererseits wird Organisationsberatern, die es schon immer gewohnt waren, die für Änderungen oder grundlegende Transformationen notwendigen Prozesse stützend zu begleiten, die Arbeit nicht ausgehen – und diese ist vor Digitalisierung noch geschützt, wie man hier leicht prüfen kann.

Organisationsberater sollten ihr Portfolio aber um agile Methoden und ähnliche Konzepte erweitern, und nicht nur, um die eigene Arbeit besser zu vermarkten. Zusammen mit ihrem tieferen Verständnis der organisationspsychologischen, kulturellen und systemischen Grundlagen könnten sie Unternehmen damit davor bewahren, eigentlich wirksame und zielführende Wege durch in die Irre führende Auffassungen zu entwerten. Wenn auf der Basis eines falschen Verständnisses konzipierte Initiativen fehlschlagen, wird als Konsequenz gerne das Kind mit dem Bade ausgeschüttet – dem kann und sollte man entgegenwirken.

In jedem Fall erscheinen laterale Führungskonzepte wichtiger, wenn Unternehmen neue Organisationsformen probieren: Die verschiedenen Quellen von Macht, die weiterhin wichtig sind, balancieren sich anders als in einer Linienorganisation. Verständigung und Vertrauen gewinnen mehr Gewicht. Die Institutionalisierung reflexiver Prozesse, auf individueller Ebene, für Teams und teamübergreifend unterstützt wirksam diese Führungs­mechanismen, die nicht neu sind, oft aber unterschätzt werden.

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Vielen Dank an Markus Zimmermann und Thomas Giernalczyk von der M19 - Manufaktur für Organisationsberatung für die Anregung und Hinweise zu diesem Beitrag.

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