Selber denken?!

Selber denken?!

Geistesblitze finden in derselben Hirnregion statt wie Humor. Nobelpreisträgerinnen und -träger sind häufiger künstlerisch oder handwerklich tätig als andere sehr gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diese und einiges anderes (z.B. unfokussiert denken, „diffuse Aufmerksamkeit“) macht subjektiv neue und somit eigene Gedanken wahrscheinlicher (Glomp 2016).

Wie würde Hochschullehre, Schulunterricht, wie ein Bildungssystem aussehen, das Geistesblitze und eigenständiges Denken befördert? Eher anders, als das, was wir haben. Kennen Sie Humorloseres als Modulbeschreibungen, Prüfungen, Lehrpläne? Machen Lernende mit ihren Fingern noch etwas anderes als tippen und wischen? Und für – oder eher gegen – das unfokussierte Denken haben wir Psychopharmaka.

Selber Denken ist Nicht-Anpassung. Funktioniert also, wenn man entweder bloss für sich arbeitet, ohne dass eine Bewertung folgen wird; oder, wenn man zwar von anderen Menschen umgeben ist, aber von solchen, die positiv reagieren auf neue Gedanken, auf Anders-Sein (vgl. Hüther 2015).

Ohne bewertet zu werden für sich arbeiten? Fehlanzeige in unserem Bildungssystem, oder? Originalitätsbonus in der Physikprüfung – eher selten, nicht? Begeisterte Reaktionen auf Anders-Sein auf dem Pausenplatz? Kaum.

Zugegeben, ein bisschen Schwarzmalerei ist da schon dabei – allerdings merkt man so, dass die Realität bezüglich Bildung zum selber Denken eher dunkelgrau ist – oder positiv gesagt: hellschwarz.

Sowieso kann man es auch positiv sehen: Es braucht wenig, um den eigenen Unterricht selberdenkfreudiger zu gestalten als er im Durchschnitt ist. Und die Lernenden werden es uns danken – denn die "Lust am eigenen Denken" ist laut dem Neurobiologen Gerald Hüther (a.a.O., 14), "die 'Luft zum Atmen', die Menschen brauchen."

Vier Bauanleitungen für Ihren Didaktik-Experimentierkasten:

  • Nachdem Sie einen allerersten Einblick in ein Thema gegeben haben – eine Übersicht, einen Einstieg, ein Beispiel, fragen Sie: «Wer kann dazu eine Frage stellen?» Zwinkert da nicht ein Humörchen auf den Stockzähnen? ;-) Wenn niemand etwas sagt (was ich für unwahrscheinlich halte), bitten Sie die Lernenden, zu zweit kurz zu tuscheln, was für Fragen sich dazu stellen könnten, und holen die Fragen dann bei jeder Zweiergruppe (oder bei einigen davon) konkret ab. Sie werden vieles von dem, was Sie ohnehin zum Thema sagen wollten, an diesen Fragen festmachen können. Dies wird mehr bewirken als all die Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. Vor allem aber: Sie haben das Verständnis von Wissen als Differenzierung, statt als Besserwisserei, initiiert. Sich selber Fragen stellen können, ist die Keimzelle des Selber-Denkens.
  • Lassen Sie die Studierenden «eigenhändig» clustern! Nachdem Sie z.B. die durch obige Fragen veranlassten Fragen stichwortartig auf A4-Papiere haben schreiben lassen – oder in irgend einer anderen Art und Weise zu A4-Papieren mit Stichworten gekommen sind (z.B. Assoziationen zu einem neuen Thema, Themenwünsche, Lösungsansätze, usw.), bitten Sie jemanden oder noch besser eine kleine Gruppe, die A4-Papiere so anzuordnen, dass enger miteinander verandte näher beineinander stehen als solche mit wenig Zusammenhang. Das kann z.B. auf dem Boden geschehen. Nur schon soviel «Handwerklichkeit», «Taktilität», kann das Denken verflüssigen. Kommt noch jemand auf die Idee, dass man den A4-Blättern auch Eselsohren machen könnte, um bestimmte Gemeinsamkeiten zu signalisieren, werden Papiere mit Klebeband verbunden, so dass ganze Einheiten verschoben werden können usw., kriegt das ganze beinahe schon einen künstlerischen Touch. Schliesslich können zu den Ballungen, die wahrscheinlich bei einer solchen Anordnung entstehen, Titel hinzugefügt werden, z.B. auf farbigen A4-Papieren notiert, allenfalls gar tischkartenartig gefaltet. Schon ist ein (Fach-)Gebiet strukturiert – gemeinsam.
  • Kombinieren Sie Gruppen- oder Einzelaufträge mit Pausen! Addieren Sie zu einer fairen (durchaus sportlichen) Zeitlimite für den Auftrag direkt die für die nächste Pause vorgesehene Zeit und schlagen Sie ausdrücklich vor, die Arbeit beim Kaffee zu erledigen. Informieren Sie die Lernenden darüber, das Defokussierung Kreativität steigert und dass Sie mit besseren Resultaten rechnen – ganz abgesehen davon, dass mehr Spass winkt. (In Weiterbildungen, in denen Pausenverpflegung im Kurspreis eingeschlossen ist, serviere ich den Gruppen manchmal persönlich Kaffee – das schafft eine angenehm irritierende Rollenvervielfachung – Defokussierung im Quadrat.)
  • Behandeln Sie provokative Fragen und Widerstandsäusserungen als Querdenken! Sagt doch jemand: «Was soll dieser Stoff nun in der Praxis bringen?» Antwortet die Dozentin: «Diese Frage ist nicht nur legitim, sonden auch interessant – und zudem hat sie Potenzial. Wir machen für 15 Minuten Gruppen aus je ungefähr 5 Personen, und zwar solche, die Gründe finden wollen dafür, dass dieser Stoff für die Praxis wenig bis nichts bringt und ebenso solche, die Beispiele dafür bringen, was man in der Praxis damit machen kann. Ich werde mich in eine der ersteren Gruppen einklinken, weil ich nämlich durchaus einige Fragen an die Relevanz des Stoffes habe.» Tauscht man im Plenum über die Ergebnisse der Gruppen aus, ist damit ein erster, intensiver Einstieg in den Stoff schon geschehen. Denn weder pro noch kontra ist möglich, ohne sich auf die Inhalte einzulassen. Man kann das so sehen, dass man damit den provokanten Fragesteller ausgetrickst hat. Man kann ihm aber auch ehrlich dankbar sein dafür, dass er das gesagt hat, was viele weniger Mutige (und weniger Engagierte!) nur denken. Ein Hoch auf die Nicht-Anpassung!

Ich freue mich auf weitere Experimentiervorschläge oder auf Erfahrungsberichte als Kommentare zu diesem Artikel!

 

Mehr ...

... solche Didaktik im Buch zur «agilen Didaktik»: www.agiledidaktik.ch

.... für das Selber-Denken im Bildungssystem in der After-Work-Veranstaltung Bildungsbier № 2 in Luzern, 14. Dezember, 17 bis 19 Uhr: blog.hslu.ch/blog/archives/4771

 

Quellen:

  • Glomp, Ingrid (2016): Aha! Wenn der Groschen fällt. In: Psychologie heute, 7/2016
  • Hüther, Gerald (2015): Etwas mehr Hirn bitte! Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen
Andreas Sägesser

lernen ist nicht zu verstehen

7 Jahre

Spannend ist auch der Gedanke, dass die provokative Frage mehr über den Fragesteller aussagt, als über das Thema.

Andreas Sägesser

lernen ist nicht zu verstehen

7 Jahre

bei Rolf Arnold habe ich einmal gesehen, wie er auf eine provokative Frage wie folgt reagiert hat: "Es würde mich interessieren, wo jetzt dieser Gedanke bei ihnen entstanden ist?"

Evelyne Ziegler-Humbel

Fachbegleitung Kunst + Soziales bei Kubeïs Kunstwerkstatt an der Lorze sowie selbständige Kunsttherapeutin im eigenen «Malatelier Cham»

8 Jahre

Guter Input, dranbleiben! So wird das Leben farbiger und interessanter – wie beschrieben kann ein Widerstand kreativ genutzt werden!

Sehr interessant. Das werde ich in den nächsten Unterricht einbauen und testen. Danke!

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