Stresstabuzone: Beißschiene hui - gürtelabwärts pfui?
Nicht über alle Stressauswirkungen reden wir gerne. Ein Löwenanteil fällt dabei gesellschaftlich komplett unter den Tisch. Ganz nach dem Motto: Zähneknirschschiene und Nackenverspannung hui – Verdauungs- und Libidoprobleme pfui.
Den meisten Menschen dürfte klar sein, was in ihrem Körper geschieht, wenn sie sich in einer stressigen Situation befinden. Und darunter sind schon vermeintlich „harmlose“ Zustände wie anhaltender Zeitdruck, Reizüberflutung und Dauererreichbarkeit zu verstehen. Das war die Geschichte mit der gefühlten Tigerjagd in der Großstadt. Der Körper versucht kurzfristig alle Energie und Fähigkeiten zu mobilisieren, um schnell handlungsfähig zu sein und letztlich zu überleben.
Wenn das über einen längeren Zeitraum hinweg geschieht, werden zu viele Stresshormone durch die Nebennierenrinde ausgeschüttet. Zu viel Adrenalin und Cortisol führen am Ende zu körperlichen wie seelischen Beschwerden. So weit, so gut.
Nun gibt es verschiedene körperliche Stressauswirkungen, die gesellschaftlich akzeptiert sind- über die reden wir oder suchen uns Hilfe, wenn wir nicht mehr weiter wissen.
Klassiker hierfür sind Nacken- und Schulterverspannungen, bzw. Kieferprobleme (Zähneknirschen). Wenn uns im wahrsten Sinne des Wortes „einiges im Nacken sitzt“, und wir physisch viel die Schultern hochziehen, wird das mittel- bis langfristig zu Verspannungen führen.
Hier sind wir gewillt hinzusehen. Dafür gibt es gute Massagen, vielleicht sogar ein Rezept vom Arzt für einen Physiotherapeuten. Auch für das gute alte Zähneknirschen braucht es nicht viel Tiefenpsychologie: Wer tagsüber oder in gewissen Lebensbereichen viel Druck und Stress ausgesetzt ist und keine anderweitigen, ausreichenden Ventile wie Sport etc. findet, wird den Druck oftmals Nachts im Kiefer spüren. Er fällt nicht wie von Zauberhand im Einschlafmoment von uns ab.
Wobei wir schon beim Thema wären. Und zwar bei dem Teil, der in die Kategorie „gesellschaftliche Tabuzone“ fällt. Darüber sprechen wir nicht gerne. Durch die fehlenden Informationen über solche Tabuthemen entsteht jedoch ein noch größerer Leidensdruck, wie durch die körperliche oder psychische Auswirkung selbst. Denn neben den Beschwerden kommt die Anstrengung dazu, dass niemand merkt, dass ich hier ein Thema habe. Und das kann richtig anstrengend werden. Ich nenne diese tabuisierten Stressauswirkungen mal Bauch-, Becken- und Libidothemen. Pfui? Nicht im Geringsten.
Beginnen wir mit dem Bauch. Unser Verdauungstrakt ist sehr anfällig für Stress. Das kann sich vielseitig äußern. Die Klassiker sind Magenschmerzen, Durchfall, Verstopfung und Blähungen. Chronisch können sich Gastritis, Reizdarmsyndrom oder Geschwüre daraus entwickeln. Natürlich gibt es auch andere Ursprünge für Krankheiten in diesem Bereich, Stress ist jedoch ein nicht zu vernachlässigender Faktor.
Warum bekommen wir Verdauungsbeschwerden, wenn wir Stress haben? Um in dem Bild zu bleiben: Wer vor dem Tiger wegrennen muss, hat keine Zeit für Verdauung. Adrenalin sorgt dafür, dass diese weitestgehend aussetzt. Und wenn unser Magendarmtrakt nicht verdaut, kommt das Ganze recht unverdaut eben wieder heraus oder stockt und gärt vor sich hin. Auch unsere Darmflora verändert sich unter Stress. Die guten Bakterien verschwinden und machen Platz für krankmachende Bakterien, wie zum Beispiel Clostridien.
Unser Bauch- und Beckenraum ist prädestiniert, um Anspannungen quasi „zu speichern“. Es gibt hier übrigens auch eine direkte Verbindung zum Kiefer. Wenn (kleine) Kinder Bauchschmerzen haben, hilft oft das Stillen oder Nuckeln an Flasche bzw. Schnuller, da damit der Kiefer entspannt wird – was sich auch auf Verdauung und das Becken auswirkt.
Der Psoasmuskel ist hier auch ein Übeltäter. Er liegt tief im Bauchraum und verbindet das Becken mit der Innenseite der Oberschenkel, er ist eine oft unbekannte Ursache für Verspannungen durch Stress. Werden Stresshormone ausgeschüttet, dann erhöht sich die Spannung im Psoasmuskel, er wird aktiviert zur Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Er ist an vielen Arten von Schmerzen beteiligt. Von Kopfschmerzen über Kiefergelenkschmerzen und Zähneknirschen bis hin zu Schmerzen im unteren Rücken oder Ischiasschmerzen.
Nun zu den vermeintlich heikelsten Themen, die durch Stress verursacht werden: Sexualfunktionen. Diese gelten sowohl für Frauen wir für Männer. Was für Schulterverspannungen bekannt und vollkommen akzeptiert ist, geschieht auch hier. Das wohl größte und sensibelste Tabu im Beckenbereich: Libidothemen oder unerfüllter Kinderwunsch (wenn nicht organisch bedingt - ein eigenes sehr großes Tabuthema für sich). Stress hat eine große Auswirkung auf unsere Organe, Hormone und unser Liebesleben. Job, Aussicht auf Beförderung, Hausbau, Kinder, Hund, Urlaubsplanung, Fortbildung – wer das Pensum im Autopiloten stemmt, will Nachts oft nur noch eins: Ruhe und Schlafen. Der Körper schaltet auf Sparflamme – Lust auf gar nichts und wenn doch, geht nach einem langen Tag nicht mehr viel. Bei Frauen wie bei Männern. Daran ist nichts Schlimmes, problematisch wird es nur wenn der Fall eintritt, dass das Thema tabuisiert wird – und noch mehr (Leistungs-)Druck entsteht. Dann sind wir in einem Teufelskreis, weil wir wieder meinen Fassaden aufrechterhalten zu müssen: es darf ja niemand merken. Was noch mehr Druck erzeugt und die Auswirkungen weiter verstärkt.
Hilfestellung Nummer eins für Tabuthemen ist meiner Erfahrung nach oft die Flucht nach vorne: darüber reden. Das wird natürlich eher der beste Freund oder Partner als der Chef sein. Aber ein Austausch kann Berge versetzen und zu der Erkenntnis führen, dass das vermeintliche Tabuthema sehr viele Personen aus dem eigenen Umfeld betrifft.
Dann ist es natürlich hilfreich, einen persönlichen Weg aus dem Hamsterrad, der Stressfalle oder dem Autopiloten zu finden. Jeder Mensch hat da andere Vorlieben bzw. Hintergründe. Vielen Menschen hilft es Sport zu treiben, in die Natur zu gehen oder Yoga zu machen.
Ich nutze all das, und darüber hinaus noch das Thema Achtsamkeit (und gebe hierzu auch Kurse), das neben Yogaübungen auch viel Meditationspraxis und Wahrnehmungsübungen vereint. Zuerst für uns selbst, jedoch auch für ein emphatisches, wertungsfreies und wohlwollendes Wahrnehmen unseres Umfeldes.
Und vor allem: Meditation und Achtsamkeit lassen uns ein Bewusstsein dafür entwickeln, was in uns und um uns herum vorgeht und was wir brauchen. Wer es schafft, mehr im Hier und Jetzt zu leben, ist dem Stress nicht mehr ausgeliefert. Wir können wieder bewusste Entscheidungen treffen. Wenn wir dann auf vermeintliche Tabuthemen stoßen, merken wir schnell, welche Ängste und Glaubenssätze dahinterstecken. Wenn Ängste und Glaubenssätze sich gezeigt haben, ist der Weg geebnet, auch körperliche Auswirkungen zu verbessern. Das ist jetzt ein wenig Psychologie- aber vor allem sind es erste Schritte, die den beschriebenen Teufelskreis durchbrechen und wieder zu mehr innerer und äußerer Freiheit jenseits von Tabus führen.