Super smart oder super dreist?
"Jeden Morgen smarter. In <5 Minuten." Ein tolles Versprechen, oder? Mit coolen Branchen-Newslettern wollen zwei junge Journalisten so richtig durchstarten und die etablierten Anbieter ärgern. Dabei lassen sie eine ziemlich asoziale (Medien-)Weltanschauung durchblicken.
Aber der Reihe nach:
"Morning Crunch" (angelehnt wohl an "crunch" = krachen) heißt die Dachmarke, unter der Gregor Becker und Paul Ostwald mehrere Newsletter auf die Beine stellen:
OMR feiert "Morning Crunch"
Die Abonnent:innen-Zahl dürfte in der vergangenen Woche sprunghaft gestiegen sein. Denn da wurden Becker und Ostwald im OMR-Newsletter prominent gefeatured.
"Morning Crunch: Ein Newsletter-Imperium gebaut auf KI und Patagonia-Westen", schreibt Christian Cohrs über seinen Artikel. Ich mag Cohrs und seinen Themenriecher, außerdem sind Newsletter ein spannendes Thema für mich, also habe ich geklickt und gelesen.
Die Überschrift erschien mir wenig später etwas gewagt angesichts von bis dahin 20.000 Abonnent:innen. Kumuliert, wohlgemerkt.
Nur zur Einordnung: Allein die Audioversion des Newsletters „Handelsblatt Morning Briefing“ hat über 720.000 Abonnent:innen (Quelle), Steingarts "The Pioneer Briefing" liegt mittlerweile wohl auch über der 250.000er Marke (Quelle).
Aber man wolle ja auch gar nicht so "steingartig" sein wie viele andere Morning Briefings, wird Ostwald von OMR zitiert. Das ist auf jeden Fall lustig ausgedrückt, deutet aber hier schon an, was die beiden von den etablierten Medien halten.
Fun Fact: Ostwald arbeitet für Ringier, Becker für Burda. Das Newsletter-Projekt betreiben sie (noch) nebenbei. In Entwicklung, Technik und Reichweiten-Aufbau sollen sie etwa 20.000 Euro investiert haben.
Ihr Stil: locker. Ihr Ziel: Flocken 💸💸💸
Und wie sind sie denn nun, die Newsletter? Ich muss sagen: ziemlich gut.
Kompakte Infos, einfache Sprache, es wird natürlich geduzt, mit Witz und Augenzwinkern. Und mit vielen vielen Emojis. Oder wie es Ostwald / Becker vielleicht ausdrücken würden:
🔥🤩😉👍
Das Meme am Ende eines jeden Newsletters ist auf jeden Fall ein guter Grund, ganz nach unten zu scrollen.
Die beiden machen keinen Hehl daraus, dass sie vor allem ein Ziel verfolgen: Geld verdienen. "Zugang zu High Potentials" und "regelmäßige Touchpoints" verspricht "Morning Crunch" seinen potenziellen Werbepartnern.
Empfohlen von LinkedIn
Die Werbepartner sollen laut OMR ordentlich löhnen, um mit "Morning Crunch" die "financially literate" Gen Y und Gen Z zu erreichen: Der TKP (Tausend-Kontakt-Preis) soll 40 Prozent über dem von Manager Magazin und Spiegel liegen.
Wohlgemerkt: An einem selbstbewussten Auftreten und ambitionierten Vermarktungszielen ist überhaupt nichts Verwerfliches. Und auch der Umstand, sich von der KI bei der Erstellung der Newsletter helfen zu lassen, ist vor allem eines: smart.
Doch mit einem kleinen Absatz im Newsletter verspielen Becker und Ostwald jegliche Sympathien (bei mir).
Spott und Hohn für die Medien
Was wären Newsletter ohne weiterführende Links? Auch "Markets Crunch" bietet unter der Rubrik "Headline Roundup" verschiedene Artikelempfehlungen an. Die Links führen u.a. zu Inhalten von Handelsblatt, Manager Magazin, Spiegel, aber auch zu Bloomberg und Wall Street Journal.
Weil diese Medien viele Journalist:innen bezahlen müssen, liegen die meisten hinter einer Paywall. (K)ein Problem für Becker und Ostwald. Sie liefern ihren "High Potentials" einfach Tipps, wie man Bezahlschranken aushebeln kann. Und verhöhnen dann auch noch die Medien.
Vorab: Falls Artikel hinter der Paywall sein sollten, benutzt unseren Guide um hinter die Paywall zu kommen (GaLieGrü an die anderen Medien!)
Wem "GaLieGrü" nichts sagt: "Gaaaaaaaaaaaaanz liebe Grüße" richtet man mit großer Theatralik aus, nachdem man über jemanden abgelästert hat. (Hörprobe bietet Jakob Lundt in etwa jeder zweiten Podcast-Folge von Baywatch Berlin.)
Es ist nichts anderes als Spott und Hohn.
Der Link führt zu einer Anleitung auf Basis eines Google-Docs, das verschiedene "sneaky" Möglichkeiten der Paywall-Umgehung aufzeigt. Dass diese im Bereich der Illegalität sind, wissen Becker / Ostwald natürlich. Deshalb wohl auch der Zusatz:
🤫 Bitte nicht petzen!
Vom High Potential zum "Newsletter-Justus"
Dass Burda, der Arbeitgeber von Becker, nichts von Paywalls hält, weiß ich noch aus meiner Zeit bei FOCUS online . 👶🏼 Dass Ringier, der Arbeitgeber von Ostwald, erst im Sommer 2023 eine Bezahlschranke vor blick.ch hochzog – geschenkt.
So bewundernswert Hands-on-Mentalität und Unternehmergeist von Becker und Ostwald sind – aus der Mischung KI-Content, Luxus-Vermarktung, Paywall-Tipps und Medienspott kann ich leider nur ein ziemlich dreistes, überhebliches Mindset ableiten.
Der Weg vom High Potential zum "Newsletter-Justus" scheint ein kurzer zu sein.
Oder was meint Ihr?
AKTUALISIERUNG 28.06.2024: Anscheinend haben die beiden Newsletter-Ersteller die Anleitung zur Umgehung der Bezahlschranke Anfang Juni entfernt. 👍🏼👍🏼👍🏼
Editor & Content Strategist bei OMR | Host "The Passenger"-Podcast | Online-Journalismus | Social Media | Meinungen sind meine eigenen
11 MonateHallo Joscha, ich würde nicht so weit gehen, die gesamte Bewertung des Projekts von einem fragwürdigen Tipp abhängig zu machen. Aber als jemand, der selbst Geld mit Inhalten verdient, stimme ich der Kritik grundsätzlich zu, logisch. Zugleich stelle ich mal die Frage in den Raum, wie viele Leute es gibt, die tatsächlich jedes Mal ein Probeabo abschließen, wenn sie eine Story hinter der Paywall interessiert (R.I.P. Blendle Deutschland). Workarounds aktiv zu promoten bleibt fragwürdig, bedeutet in der Realität aber nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine gesparte Google-Suche. Und: Danke für dein Aufgreifen der Story und die persönliche Einordnung!
Re-Inventing Sports Publishing
11 MonateDer Begriff "crunch", so wie er in der Software-Entwicklung und v.a. Gaming-Branche verwendet wird, törnt mich sowieso schon mal massiv ab...