Typen der Unmündigkeit: der Opportunist
Der Opportunist liebt Hierarchien, denn diese geben ihm Rang, Bedeutung und Perspektive. Dafür blickt er gern nach oben. Dort möchte er einmal ankommen. Auch wenn es vielleicht nicht für ganz oben langen mag. Aber träumen wird ja noch erlaubt sein. Und wer weiß, vielleicht schafft er es ja bis in die zweite Ebene. Oder wenigstens in die dritte. Es liegt doch nur an ihm selbst. So, wie er sich verhält, werden die in der Ebene über ihm Befindlichen auf ihn aufmerksam werden, werden ihn auf seine Eignung prüfen und, sobald sich dafür die Gelegenheit bietet, ihn als ihren Nachfolger bestimmen. Wenn diese selbst eine Ebene nach oben rutschen. Ein einfaches Verschiebeprinzip. Oben fällt einer heraus. Aus Altergründen. Oder da er sich als nicht so geeignet erwiesen hat. Worüber der Opportunist jedoch nicht nachdenken möchte, denn allein der Gedanke, einer seiner Vorgesetzten könne sich als ungeeignet erweisen, scheint ihm unbotmäßig. Wichtiger ist jedoch, das andere nachdrängen. Viele. Für eine freiwerdende Stelle. Gegen die er sich behaupten muss. Weshalb er alles tut, um die über ihn Befindlichen ausgiebig zu schätzen. Für ihre Klugheit und ihre Begabung. Ihre Weitsicht und ihre Reflektiertheit. Für ihre Gewandtheit und ihre Eloquenz. So denkt der Opportunist, wenn er denkt, was sein Chef denken würde, wenn dieser an seiner Stelle denken sollte. Auch sein Handeln folgt diesem Prinzip. Natürlich ist dabei Stagnation nicht ausgeschlossen. Beispielsweise in Situationen, in denen unklar ist, wie sich der Chef verhalten würde. Doch genau dagegen hat die Hierarchie vorgesorgt. Mit Standards, Normen und Prozessbeschreibungen. Auf die man sich berufen kann. Immerhin wurden sie von ganz oben abgesegnet. Denen hat sich sogar der eigene Chef zu unterwerfen. Und der Opportunist ist dankbar für diese Art von Unterstützung. Denn all die Regeln, Anordnungen und Verfahrensbeschreibungen helfen ihm, seinen Platz in der Hierarchie zu sichern. Und zu tun, was man von ihm erwartet. Weshalb er seine Überstunden für das Ausloten der innenpolitischen Beziehungen verwendet. Wer geht mit wem zum Mittagessen? Wer wird zu einem Meeting eingeladen und wer nicht? Wem werden welche Aufträge übertragen? Wer sitzt wie weit vom Chef entfernt? Wer darf auf Dienstreisen welches Hotel wählen? Fragen über Fragen, für die es eine Antwort zu finden gilt. Weshalb dem Opportunisten schlichtweg die Zeit fehlt, über seine Mündigkeit nachzudenken. Denn sein Ziel ist es, keine Fehler zu machen und diese beanstandungslose Arbeit in die Aufmerksamkeit seiner Führungskräfte zu rücken.