Und jetzt auch das noch !
Mein Editorial in der vis a vis 5/2022

Und jetzt auch das noch !

Die meisten Unternehmen haben derzeit mit den Auswirkungen der Pandemie und des Ukraine-Krieges bis zum Letzten zu kämpfen – und manche stehen sogar gerade am wirtschaftlichen Abgrund, wie Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger beim Deutschen Arbeitgebertag zutreffend sagte. Und dann trat am 13. September das Bundesarbeitsgericht (BAG) auf den Plan und setzte – möglicherweise – eine neue Bürokratiewelle in Gang:

Paragraf 3 Absatz 2 Nummer 1 des deutschen Arbeitsschutzgesetzes sei so auszulegen, dass eine umfassende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bestehe. Obwohl das aus dem Wortlaut des Gesetzes so gar nicht zu entnehmen ist!

Es geht um Gesundheit, nicht um Bezahlung

Um es klar zu sagen: Es geht bei diesem Gesetz nicht um Geld. Es geht nicht um das Verhältnis Zeit zu Gehalt. Es geht ausschließlich um Gesundheitsschutz. Derzeit schreibt das deutsche Arbeitszeitgesetz vor, dass bis zur achten Stunde pro Tag keine Arbeitszeit erfasst werden muss. Erst ab der neunten Stunde und in der zehnten Stunde muss die Arbeitszeit „aufgeschrieben“ werden. Wer länger als zehn Stunden arbeitet, muss daran gehindert werden.

Das war über Jahrzehnte unstreitig und unproblematisch – bis der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 die „Errichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“ nach europäischem Recht für erforderlich erklärt hat, um die Einhaltung der europäischen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche zu überwachen. Was folgte daraus für das deutsche Arbeitszeitgesetz? Weder die frühere schwarz-rote noch die amtierende rot-grün-gelbe Bundesregierung wurden bis zum heutigen Tage gesetzgeberisch tätig.

Unerwartet mehrdeutig

Jetzt hat das BAG diese Ruhe gestört, ja beseitigt. Jetzt werden die Karten neu gemischt. Allerdings ist die Presseerklärung des BAG – die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor – alles andere als klar, sie zeichnet sich sogar durch eine für ein oberstes Bundesgericht erstaunliche Mehrdeutigkeit aus:

Absatz 1 Satz 1 der Pressemitteilung lautet: „Der Arbeitgeber ist nach Paragraf 3 Absatz 2 Nummer 1 Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.“ Kein Problem. Man reiche jedem Mitarbeiter Papier und Bleistift und sage: „Auf diesem Blatt können Sie Ihre Arbeitszeit aufschreiben.“

Absatz 3 Satz 4 der Pressemitteilung lautet: „Bei unionskonformer Auslegung von Paragraf 3 Absatz 2 Nummer 1 Arbeitsschutzgesetz ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen.“ Das kann ein Problem werden!

Diesen Widerspruch kann nur das BAG selbst auflösen, und zwar durch eine Präzisierung in den Entscheidungsgründen. Diese dürften im November veröffentlicht werden. Bis dahin gilt es, geduldig abzuwarten. Das sieht erfreulicherweise auch Bundesarbeitsminister Heil (SPD) so. Er erklärte, welche Weiterungen sich für den Gesetzgeber ergeben würden, könne man erst nach Vorliegen der Urteilsbegründung einschätzen.

Seine Parteifreunde preschen dagegen jetzt schon vor. So sagte Bernd Rützel, der Vorsitzende des Arbeits- und Sozialausschusses des Deutschen Bundestags: „Wenn die Arbeitszeiterfassung Pflicht ist, dann muss es für Verstöße auch Sanktionen geben. Es muss geregelt werden, wie die Arbeitszeit aufgezeichnet wird. Dies muss manipulations- und fälschungssicher sein.“ Frage: Wie sollen beispielsweise auf dem Bau oder in der Gastronomie manipulationssicher die Arbeitszeiten erfasst werden? Mit einer App? Mit deren Hilfe bei jeder Arbeitspause die Arbeitszeiterfassung gestoppt wird, wozu dann jeder Arbeitnehmer verpflichtet wäre? Das soll funktionieren? Wer’s glauben will …

Auch die Gewerkschaften sollten an diesem Punkt aufpassen: Ein Arbeitnehmer, der versehentlich nicht jede Pause „ausstempelt“, begeht einen „Arbeitszeitbetrug“, der kündigungsrechtlich sanktioniert werden kann. Zu Recht schrieb die Arbeitsrechtlerin und Bloggerin Nina Straßner am 23. September in der WirtschaftsWoche: „Wer die Konsequenzen von Arbeitszeitbetrug kennt, kann auch erahnen, wie groß der Druck auf Arbeitnehmende sein dürfte, künftig ein juristisch sauberes Tracking der eigenen Arbeitsstunden abzuliefern.“

Ab in den Süden

Zu folgendem Szenario darf es keinesfalls kommen: Es wird tatsächlich angeordnet, dass – unter Berufung auf das Urteil des EuGH – jede Minute Arbeitszeit erfasst werden muss. Die Deutschen und die „Nordlichter“ (Finnen, Schweden etc.) exekutieren das brav, aber die „Südländer“ (Griechen, Spanier etc.) scheren sich nicht darum. Dann werden mindestens die Startups gen Süden abwandern – die Freiheit lässt grüßen.

Die Vertrauensarbeitszeit steht auf dem Spiel, auch wenn sie laut Koalitionsvertrag weiterhin möglich sein soll. Mindestens die Kreativwirtschaft ist in ernster Gefahr.

Ihr Michael Niebler

Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des AGV

Walter Bockshecker

Nürnberger Versicherung

2 Jahre

Diese Diskussion zeigt, wie weltfremd unsere Politik geworden ist. Wir streben die mutigen, selbstbestimmten und selbstbewussten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, die sich ihre Arbeit und ihre Arbeitszeit verantwortungsbewusst, ergebnisorientiert und gesund einteilen wollen ( und können). Es zählt der Output, das Ergebnis, nicht die Zeitmessung, die Verwaltung von Arbeitszeit und deren minutengenaue Dokumentation.

Tobias Vögele

Bereichsleiter Personalwesen

2 Jahre

Ein klares und richtiges Statement, lieber Michael! 👍 Angemerkt sei zusätzlich: 1. Die richtige Messgröße für gute Arbeit ist nicht durchgehend die aufgewandte Arbeitszeit und eine tägliche Höchstgrenze von maximal zehn Stunden über einen Ausgleichszeitraum der letzten 24 Wochen ist zwar der Wille des (europäischen) Gesetzgebers, aber eben auch nur "one size fits all". 👕 2. Wo bleibt eigentlich die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden dafür, selbst auf die eigene Gesundheit zu achten und das Arbeits- und Pausenverhalten hieran auszurichten? Und dort, wo schlechte Arbeitgeber, die Mitarbeitenden "auspressen wie 🍋 🍋 🍋" gibt es hoffentlich noch einen Betriebsrat, zu dessen Aufgabe es gehört, darauf zu achten, dass die gesetzlichen Regelungen eingehalten werden.

Jürgen Schrade

Personaler aus Überzeugung!

2 Jahre

Ein sehr treffend formulierter Artikel!

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