Und? Was machen die Nieren?

Und? Was machen die Nieren?

Eine ungewöhnliche Frage, finden Sie nicht? Jenseits der 50 erkundigen wir uns bei Freund:innen und Kolleg:innen eher nach dem Wohlergehen von Rücken oder Knie. Tatsächlich wäre es aber gut, wenn das Befinden unserer Nieren viel öfter im Fokus stünde. Denn an einer chronischen Nierenkrankheit (chronic kidney disease, CKD) leiden nicht nur ca. 9 Millionen Menschen in Deutschland.(1) Sehr bedenklich ist, dass lediglich etwa 10 % der Betroffenen von ihrer CKD wissen.(2–5) Bei den übrigen 90 % schreitet die Erkrankung unbemerkt und somit unbehandelt fort. Damit einher geht ein erhebliches Risiko für Nierenversagen – und dies bedeutet: regelmäßige Dialysebehandlungen oder sogar Nierentransplantation sowie ein deutlich höheres Sterberisiko.(6) Vor allem die Dialyse wirkt sich sehr stark auf den Alltag der Patient:innen aus und mindert ihre Lebensqualität erheblich. Hinzu kommt, dass die Dialyse mit jährlichen Durchschnittskosten von über 70.000 EUR pro Patient:in in Deutschland sehr kostenintensiv ist und sich im Gesundheitswesen entsprechend bemerkbar macht. (7) 

 

CKD-Diagnostik: Potenzial des regelmäßigen Screenings nutzen 

Eine der Ursachen der CKD-Unterdiagnostik scheint in den hausärztlichen Praxen verortet zu sein. Darauf weisen die Ergebnisse der deutschlandweit durchgeführten Studie InspeCKD hin.(8) Sie hat – erstmals für Deutschland – anonymisierte, digitale Versorgungsdaten von knapp 450.000 CKD-Risikopatient:innen aus 1.200 hausärztlichen Praxen analysiert. Dazu zählen insbesondere Patient:innen mit Bluthochdruck, kardiovaskulären Erkrankungen oder Diabetes mellitus. Die Datenauswertung ergab, dass im Beobachtungszeitraum von ungefähr 1,7 Jahren bei weniger als der Hälfte der Risikopatient:innen das Serumkreatinin bestimmt wurde (siehe Grafik). Dieser Kreatinin-Wert ist wichtig für die Bestimmung der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (estimated glomerular filtration rate, eGFR), einem Indikator für die Filtrationsleistung der Nieren. 

Auffälliger war allerdings, dass der Albumin-Kreatinin-Quotient im Urin (urine albumin-creatinine ratio, UACR) praktisch gar nicht bestimmt wurde (siehe Grafik). Dabei wird im Labor die Eiweißmenge im Urin – die bei gesunden Nieren quasi bei Null liegt – gemessen. Dies ist wichtig, um das Risiko und das Voranschreiten einer CKD noch besser abschätzen zu können. Denn ein unauffälliger eGFR-Wert schließt für sich genommen eine Nierenschädigung nicht immer aus. (8) Dennoch findet diese Testung laut Studie selten statt, obwohl sich Leitlinien bei Risikopatient:innen für die Messung von eGFR und UACR aussprechen. (9,10) 

 

„Die Ergebnisse der InspeCKD-Studie weisen auf große Lücken in der CKD-Früherkennung hin – aber lassen auch das Potenzial für ihre Verbesserung erkennen. Die Früherkennung der CKD lohnt sich. Denn zu ihrer Behandlung gibt es mittlerweile effektive Therapieoptionen, die ein Fortschreiten der Erkrankung verhindern und den Patientinnen und Patienten wertvolle Lebensqualität schenken können.“ Prof. Dr. Christoph Wanner, Abteilung klinische Studien und Epidemiologie, Renal Research Unit, Universitätsklinikum Würzburg, und Leiter der InspeCKD-Studie 

 

Mit digitaler Versorgungsforschung Mängel in der Versorgung identifizieren 

Aus meiner Sicht zeigt die InspeCKD-Studie auch eindrucksvoll, wie ganz allgemein mittels digitaler Versorgungsforschung Versorgungsmängel sichtbar gemacht und Ansatzpunkte zu deren Behebung identifiziert werden können.(8) Bezogen auf die CKD denke ich hier etwa an eine stärkere Verankerung regelmäßiger Screenings mittels eGFR- und UACR-Messungen in den Disease Management Programmen zu Herzinsuffizienz, koronarer Herzkrankheit und Diabetes mellitus. Außerdem sollte ein solches Screening in die erweiterte Vorsorgeuntersuchung ab 50 Jahren, dem Check-up 50, aufgenommen werden – eine Vorsorgeuntersuchung, die das Bundesministerium für Gesundheit in seinem Impulspapier „Früherkennung und Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen" vorsieht. Nicht zuletzt sollte man mit Blick auf die hohe Prävalenz auch ein eigenes DMP CKD erwägen. Als Grundlage dafür bräuchte es eine Nationale Versorgungsleitlinie CKD, die bisher noch nicht existiert. 

 

Versorgungsprognosen ermöglichen frühzeitiges Gegensteuern 

Digitale, anonymisierte Datensätze von CKD-Patient:innen bieten aber nicht nur die Chance, Einblicke in den Status quo der CKD-Versorgung in Deutschland zu erlangen. Sie lassen sich auch nutzen, um versorgungsrelevante Prognosen zu erstellen. So sagen etwa die Ergebnisse der Studie InsideCKD voraus, dass die Prävalenz der CKD bis 2027 auf knapp 11 Millionen Erkrankte – das entspricht einem Anteil von 13,1 % – zunehmen wird.(11) Die Dunkelziffer wird dabei mit ca. 84 % sehr hoch bleiben. Auch prognostiziert die Studie für den Zeitraum zwischen 2022 und 2027 einen Anstieg der jährlichen Gesundheitskosten um 11,8 % auf rund 10 Milliarden Euro. Was dabei besonders ins Gewicht fällt: Die Nierenersatztherapien werden in 2027 voraussichtlich über die Hälfte der jährlichen CKD-Gesundheitskosten ausmachen, obwohl sie nur bei 5,4 % der CKD-Patient:innen indiziert sein werden. Unter die Nierenersatztherapien fallen Transplantationen sowie Peritoneal- und Hämodialyse. Die Studie InsideCKD hatte als Grundlage für diese Berechnungen anonymisierte, digitale Datensätze analysiert und auf deren Basis die zukünftige klinische und wirtschaftliche Belastung durch CKD prognostiziert.  

 

GDNG und Nationale Pharmastrategie stimmen hoffnungsvoll 

So wichtig diese Erkenntnisse für die Versorgung von CKD-Patient:innen sind, so ernüchternd ist die aktuell eher schlechte digitale Datengrundlage bei CKD in Deutschland. Was die Nutzung digitaler Gesundheitsdaten in der Versorgungsforschung betrifft, hat Deutschland noch deutlichen Aufholbedarf. Vorsichtig optimistisch stimmen mich allerdings die jüngsten gesundheitspolitischen Entscheidungen. Insbesondere mit dem Ende 2023 verabschiedeten Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) und der Nationalen Pharmastrategie der Bundesregierung wurden dringend notwendige Weichen gestellt, um den Zugang zu anonymisierten, digitalisierten Gesundheitsdaten zu erleichtern. Wichtig ist auch, diese digitalen Gesundheitsdaten über Sektorengrenzen hinweg stärker zu vernetzen. Wenn dieser Weg konsequent beschritten wird, bin ich überzeugt davon, dass die digitale Versorgungsforschung unter Einhaltung der in Deutschland hohen Datenschutzanforderungen einen zentralen Beitrag für eine bessere Patient:innenversorgung leisten wird – und dies nicht nur bei CKD. 

 

Digitalisierung des Gesundheitswesens als Chance 

Doch auch jenseits der digitalen Versorgungsforschung bietet Digitalisierung im Gesundheitswesen ein enormes Potenzial. Ein Blick auf die bedeutenden Entwicklungen bei KI-gestützten Verfahren zur Bildgebung und Diagnostik ebenso wie die Fortschritte in der Telemedizin verdeutlichen dies. Dass Deutschland in dieser Hinsicht endlich aufholt, ist wichtig und richtig. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens eröffnet uns die Perspektive, die Versorgungssituation und damit auch die Lebensqualität von Patient:innen insgesamt nachhaltig zu verbessern. So dürften es am Ende nicht nur Ihre Nieren sein, die froh über diese Entwicklung wären. 

 

Grafik: Die Studie InspeCKD auf einen Blick 

 

Quellen 

1. Bikbov, B et al. The Lancet 2020;395:709–33.  

2. Tangri, N et al. BMJ Open 2023;13:e067386.  

3. National Institutes of Health, National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases. Kidney Disease Stats; https://www.niddk.nih.gov/health-information/health-statistics/kidney-disease (letzter Zugriff: Dezember 2023).  

4. De Boer, IH et al. Diabetes Care 2022;45:3075–90.  

5. Hirst, JA et al. Br J Gen Pract 2020;70:e285–93.  

6. Jaber, BL, Madias, NE. Am J Med 2005;118:1323–30.  

7. Jha, V et al. Adv Ther 2023;40:4405–20.  

8. Wanner C, Datenanalyse aus Praxen deutscher Hausärzt:innen zur Untersuchung von CKD-Prävalenz, Diagnoseraten, Diagnoseverhalten und Behandlungsmustern. Session CKD-Komplikationen 2, DGfN Kongress 2023, Berlin, 05.-08.10.2023.  

9. DEGAM Leitlinie (Kurzversion) ‘Versorgung von Patienten mit nicht-dialysepflichtiger Nierenerkrankung in der Hausarztpraxis – Vorgehen Erstdiagnose’, 06/2019, AWMF-Register-Nr. 053-048.  

10. Kidney disease: improving global outcomes (KDIGO) CKD work group. Kidney Int Suppl 2013;3:1-150.  

11. Banas MC et al., DGfN 2023, Abstract #FV03.  


DE-68263 


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Dr. med. Dirk Lümkemann

Die Macht der Gewohnheit | Modernes Gesundheitsmanagement für mehr Leistung und einen geringeren Krankenstand | CEO @ padoc | zertifizierter Coach | Fördermitglied des BPM I Standortleiter für tennis2business in Hamburg

9 Monate

Moin Michael Seewald, sollte der Weltnierentag nicht vielmehr die Prävention betonen statt die Unterdiagnostik. Viele Nierenerkrankungen sind durch den Lebensstil verursacht. Mit evidenzbasierter Prävention diagnostizieren wir weniger Nierenerkrankungen.

Mark Peters

Themen: #KI #metaverse #Cyberschutz, #medical, #medizintechnik, #medicaltechnology und #qualitaetsmanagement #Hygiene

9 Monate
Elman Amirahmadi

Chemieingenieur / Umweltingenieur

9 Monate

Vielen Dank für das Bewusstsein, das Sie für chronische Nierenerkrankungen schaffen. Wichtige Information!

Dr. Niels Ostmeier

Chief Medical Officer @Physikit I MBA I Facharzt für Anästhesie I Creating a more inclusive, sustainable and resilient healthcare system

9 Monate

Ein extrem bedeutendes Thema Michael Seewald. Da CKDs im Frühstadium meist ohne für die Patient:innen auffällige Symptome verlaufen, erfolgt die Diagnose häufig viel zu spät. Ich stimme allerdings auch dem Kommentar von Mark Peters zu, dass die Praxisteams bereits an der Belastungsgrenze arbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir Patient:innen dazu empowern sollten, den Start ihrer Behandlungsjourney selber in die Hand zu nehmen. Ein niedrigschwelliges Screening Angebot zum Beispiel über die Bestimmung der eGFR und der UACR durch Selbsttests kann hier ein interessanter Ansatz sein, um Patient:innen zu triagieren und Praxisteams zu entlasten. So ließen sich vor allem auch die Patient:innen-Gruppen erreichen, die unregelmäßig zu Ärzt:innen gehen und daher besonders gefährdet sind.

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