Vom Erkennen von komplexen Zusammenhängen (Teil 3)
Gut gemeint ist nicht gut gemacht – das gilt auch für Regulierungsprojekte! (Bild: istock/SerrNovik)

Vom Erkennen von komplexen Zusammenhängen (Teil 3)

Auch Regulierungsprojekte müssen komplex arbeiten

Der ZVO widmet sich bereits seit Längerem komplexen Zusammenhängen. Komplexe Systeme bestehen aus einer großen Anzahl an Komponenten, die miteinander wechselwirken. So entstehen Wirkungsketten aber auch Regelkreise, die über viele Komponenten laufen können. #Komplexität zu bewältigen, setzt systemisches Denken (oder Systemdenken) voraus.

Wir betrachten im folgenden Teil 3 der Abhandlung drei weitere der insgesamt acht Fehler im Umgang mit komplexen Fragestellungen und stellen sie in typischen Beispielen dar:

·      Teil 1

o   Hypothesenfehler

o   Planungsfehler

·      Teil 2

o   Zielfehler

o   Bewertungsfehler

o   Korrekturfehler

·      Teil 3

o   Kommunikationsfehler

o   Fehldosierung

o   Timing

 

Kommunikationsfehler

Hier kommen wir zu einem wenig beachteten Aspekt. Kommunizieren setzt voraus, dass wir die gleiche Sprache sprechen und verstehen! Nur dann ist es möglich, Bedürfnisse, Möglichkeiten und Vorgehensweisen in Übereinstimmung zu regeln. Das ist insbesondere für das Verhältnis von Regierung bzw. Obrigkeit zu seinem Souverän, dem Bürger, von entscheidender Bedeutung. Historisches Beispiel ist die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther. Bis dahin konnten die „einfachen“ Bürger nicht verstehen, was ihnen ihre religiösen Führer vortrugen und ob die Gebote, die sie befolgen mussten, wirklich Gottes Wort waren. Auch die EU sollte sorgfältig Sorge tragen, dass ihre Bürger sowohl ihr gesprochenes als auch ihr schriftliches Wort problemlos verstehen und sich dazu äußern können. Nur dann kann in einem so komplexen System wie der EU wirklich jeder Bürger teilnehmen, als Grundvoraussetzung für Demokratie! Wie sieht es aber in der EU aktuell aus? Hauptsprache der EU-Kommunikation ist nach wie vor Englisch. Seit dem Brexit gibt es jedoch nur noch rund 5,5 Millionen Muttersprachler (Irland und Malta), das sind etwa 12 Prozent. Gleichzeitig sind laut Erasmus 46 Prozent der EU-Bürger nicht in der Lage, ein Gespräch in einer Fremdsprache zu führen. Damit sind fast die Hälfte der EU-Bürger von den endlosen Dokumenten und Online-Veröffentlichungen der EU, die meist nicht aus dem Englischen übersetzt werden, ausgeschlossen – allein wegen Ihrer Herkunft! Wie kann hier von Beteiligung und Gleichbehandlung ausgegangen werden? Wie sollen die komplexen Herausforderungen der EU gemeinsam gestemmt werden?

Weitere Fehler in der Kommunikation sollen nur aufgezählt werden: fehlende konkrete Zielvereinbarungen (siehe Zielfehler), fehlende Zwischenabstimmungen („kein Plan übersteht die erste Feindberührung“; Moltke), Kommunikationseinbahnstraßen und unzureichende Kommunikationskanäle. All dies behindert die Beteiligung der Betroffenen und damit ein gemeinsames Vorgehen in komplexen Systemen. Dies ist aber unabdingbar, um sicherstellen zu können, dass Neben- und Wechselwirkungen bestmöglich berücksichtigt und dauerhaft beobachtet werden können.

Fehldosierung

Dieser Fehler sollte intuitiv klar sein, auch in seiner Wirkung. Maßnahmen und damit ihre Nebenwirkungen schießen weit über das Ziel hinaus. Beispiel ist eine Reaktion der EU auf die Covid-Krise: „Die EU hat im Juni 2020 ihre Strategie für die Beschaffung von Impfstoffen auf den Weg gebracht. Bis Ende 2021 hatte sie Verträge im Wert von 71 Milliarden Euro unterzeichnet, mit denen bis zu 4,6 Milliarden Impfstoffdosen gesichert wurden.“ Die Anzahl der georderten Impfdosen stellte damit für jeden EU-Bürger rechnerisch zehn Exemplare bereit. Selbst unter pessimistischsten Prognosen dürfte dieser Wert sehr hoch sein – wie sich tatsächlich zeigte. Sinnvoll wären wohldosierte Schritte gewesen, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren; schließlich wurden die Impfstoffe weiterentwickelt und wir leben in keiner Perma-Pandemie. Dass es sich um eine Fehldosierung handelte, ist eindeutig. Ebenso ist plausibel, dass die aufgewendeten Mittel für andere Zwecke fehlen und dies Nebenwirkungen verursacht, die nicht auf die Gesundheitspolitik begrenzt bleiben müssen.

Der gefahrenbasierte Ansatz zur Chemikalienregulierung führt zur Betrachtung von tausenden von Substanzen, vorangetrieben von einer steigenden Zahl von Behörden und Regulierern in EU und Nationalstaaten. Tausende von Substanzen, die in einer unübersehbaren Anzahl von aktuellen Anwendungen stehen, die noch dazu über Lieferketten vernetzt sind. Das fehlende Priorisieren führt zu einer endlosen Regulierungswelle und steigender Bürokratie. Dabei führen viele Verwendungen zu keinem messbaren Risiko – weder für uns Menschen, noch für die Umwelt. Ein eindeutiger Fall von Fehl-(Über-)dosierung. Durch eine Beschränkung auf tatsächliche Risiken könnten schneller und direkter positive Wirkungen erzielt werden. So steigen stattdessen Bürokratie, Kosten und Zeitbedarf. Nebenwirkungen wie erhöhte fachfremde Personalbindung, Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit, Firmenabwanderung in EU-ferne Gefilde, Innovationsverzögerung sowie Planungsunsicherheit sind real zu beobachten. Verbesserungen beim Schutz von Umwelt und Mensch sind allenfalls marginal. Was dies für das komplex verflochtene Wirtschaftssystem Europas bedeutet, ist offensichtlich.

Timing

Komplexe Systeme zeigen ausgeprägte zeitliche Effekte. Manche Wirkungen treten spontan ein, andere erst verspätet oder werden durch vorgelagerte Eingriffe sogar verhindert. Die Gründe für falsches Timing sind vielfältig: Ungeduld, äußere Handlungszwänge, mangelndes Verständnis/mangelnde Erfahrung, Angst, Selbstüberschätzung oder auch die fehlende Akzeptanz des Unvermeidlichen.

Ungeduld zeigt sich zum Beispiel in zu kurzen Fristen für Reaktionen auf offizielle Anfragen der europäischen Behörden. „Public consultations“ oder „calls for evidence“ werden da gern über Feiertage oder Urlaubszeiten angesetzt. So stehen die Informationen nach der eigenen Abwesenheit zur Verfügung. Oder auch nicht, was die Auswertung verkürzt.

Äußere Handlungszwänge zeigen sich aktuell im STM-BREF-Prozess. Politisch werden neuerdings Umweltleistungskennwerte (AEPL) als Vorgabe in BAT-Schlussfolgerungen gefordert (Industrieemissionsrichtlinie 2.0). Der Prozess der #BREF -Überarbeitung ist bereits weit fortgeschritten. Die auf diese neue Anforderung nicht ausgelegten Datengewinnungsmethoden können die Informationen zu AEPL nicht liefern, dennoch sollen die Meilensteine gehalten werden.

Unverständnis bzw. mangelnde Erfahrung ist häufig in Regulierungskreisen anzutreffen. Kaum jemand war selbst in Wirtschaftsunternehmen tätig, die STM-BREF-Bearbeiter waren Ende 2023 das erste Mal in betroffenen Unternehmen und lernten die Technologie kennen. Bei Sitzungen des RAC und SEAC der ECHA zu Autorisierungen sind die Berichterstatter meist nicht vom Fach, sollen aber die detaillierte Auswertung von Anträgen zur Entscheidungsvorbereitung vornehmen. So muss zu Beispiel ein Biologe aus der universitären Forschung die Berichterstattung zu sozioökonomischen Folgen einschätzen.

Angst führt schnell zu hektischer, irrationaler und wenig durchdachter Reaktion. Die Angst vor Krebserkrankungen führt zu einem Brute-Force-Ansatz, also einer erschöpfenden Suche nach Lösungen für alle denkbaren krebsauslösenden Substanzen. Die Substitution aller Substanzen, möglichst umgehend, wird als alternativlos betrachtet. Auch viele Programme zur Bewältigung des Klimawandels zeichnen sich durch überhastete Maßnahmen und gar Gesetze aus. Ständig andere Technologien als „die Lösung“ zu präsentieren (Batterien, Wasserstoff …), verdeutlicht dies. Eine Transformation ist aber doch nur sinnvoll, wenn der zu Transformierende das Ende der Transformation noch erreicht. Für die deutsche Wirtschaft ist das derzeit fraglich. Hier tritt auch Selbstüberschätzung auf, indem einige aus deutschen Politiker- und Regierungskreisen davon ausgehen, beispielgebend für die gesamte Welt zu sein oder zu werden. Wenig spricht jedoch dafür.

Zuletzt noch die wichtige Akzeptanz des Unvermeidlichen. Oft wird versucht, Fortschritte und Ergebnisse zu erzwingen. Beispielsweise erhalten Substanzen, die substituiert werden sollen, Übergangsfristen von vier oder sieben Jahren, in besonderen Fällen auch mal 13,5 Jahre (#PFAS -Beschränkungsentwurf). Es ist jedoch kaum zu vermeiden, dass diese Fristen nicht einhaltbar sein werden. Das ergibt sich aus der Struktur der Wirtschaft in Lieferketten. Gesetzt den Fall, ein Vorlieferant konnte ein Substitut finden – dann muss sein Lieferkettennachfolger noch die gleiche Eignung feststellen, dann sein Nachfolger und dann ggf. ein weiterer bis am Ende vielleicht auch der Endnutzer Akzeptanz zeigen muss. Jeder einzelne Schritt kann Jahre in Anspruch nehmen (von Entwicklung bis zu Feldtests). Das ist unvermeidlich, wenn realistische, verwendbare Lösungen erzielt werden sollen – es ist notwendig, es sei denn, die Lieferkette wird geopfert.

Zusammenfassung

Die Ausführungen haben gezeigt, dass sich viele Fehler im Umgang mit komplexen Systemen in Politik und Regulierung finden lassen. So wundert es nicht, dass eine gut gemeinte Aktion oft haarsträubende neue Probleme schafft. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht!

Wir alle müssen lernen, den komplexen Zusammenhängen in Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch Projekten in Unternehmen oder Forschung und Entwicklung informiert entgegenzutreten. Der typische Managementwerkzeugkasten genügt dafür nicht. Seine Werkzeuge setzen praktisch immer Linearität, das heißt eine eindeutige Richtung von Ursache-Wirkung voraus. Er verspricht eindeutige, wiederholbare und vorhersagbare Ergebnisse, die es zu finden gilt. Genau diese Voraussetzungen gelten für komplexe Zusammenhänge nicht. Hier braucht es andere Denk- und Herangehensweisen, die es zu trainieren gilt.

 

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Interessant, dass die Regierung von Europa eigentlich eine andere Sprache spricht als Ihre Bevölkerung. In Deutschland sind die Kommnikationsfehler ebenfalls offensichtlich. Die Erscheinungen von Fehldosierung und falschem Timing sind wohl viel auf fehlende Erfahrung, aber auch eine Lücke in der Bildung zurückzuführen. Da wir Komplexität nicht umgehen können, wäre es wohl wichtig, in slchen Systemen Menschen in die Verantwortung zu bringen, die eine Idee davon haben, wie man mit ihr umgeht.

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