Warum Forschungspolitik gegen Deindustrialisierung hilft
Angesichts der zunehmenden Deindustrialisierung ist Industriepolitik heute in aller Munde. Industriepolitik, das sind wirtschaftspolitische Maßnahmen eines Staates oder dessen Verwaltungseinheiten, die auf die Struktur und die Entwicklung eines Industriezweigs einwirken. Ob „Inflation Reduction Act“ in den USA oder Klimatransformationsfonds in Deutschland – ein Eingreifen in die Märkte durch den Staat scheint unausweichlich. Doch lässt sich Industriepolitik mit einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik vereinbaren? Kann der Staat besser als der Markt beurteilen, in welchen Branchen und Unternehmen Investitionen besser investiert sind?
Ludwig Erhard, der Vater der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, war skeptisch:
„Was wir brauchen, ist meiner Ansicht nach nicht ein Planungsprogramm, sondern ein Ordnungsprogramm. Es macht übrigens einen großen Unterschied aus, ob ein einzelner Unternehmer glaubt, in einer spezifischen Form der Vorausschau die Entwicklung des Marktes besser beurteilen zu können, oder ob der Staat von sich aus über das Instrumentarium der Wirtschaftspolitik hinaus die Entscheidungen der Unternehmungen unmittelbar zu beeinflussenversucht.“
Industriepolitik muss aber nicht zwangsläufig Unternehmensentscheidungen vorwegnehmen. Eine bewährte Methode, industrielle Entwicklung und Wachstum zu fördern, ohne Entscheidungen von Unternehmen unmittelbar zu beeinflussen, ist das Engagement des Staates für Forschung, die Förderung von Innovation und die Entwicklung neuer Technologien. Hier hat Deutschland Erfolge aus der Vergangenheit vorzuweisen. Auch andere Industrieländer fördern Forschung und Innovation durch staatliche Kassen.
Kaum ein Land ist so sehr angewiesen auf Forschung, Innovationskraft und technologische Spitzenleistungen wie das rohstoffarme Industrieland Deutschland. Angesichts multipler Krisen und inmitten des globalen Systemwettbewerbs gilt das mehr denn je. Unser Land der Tüftler, Denker und Ingenieure muss Erfindergeist und Einfallsreichtum fördern. Die Wirtschaft sorgt für die Zukunft des Standortes Deutschland vor: Zwei Drittel der gesamten Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) in Deutschland werden von den Unternehmen aufgebracht. Allein der Mittelstand investierte im letzten Jahr 28,2 Mrd. Euro in F&E.
Leider fallen wir trotz dieser Anstrengungen im internationalen Innovationswettlauf zurück. Noch im Jahr 2000 kamen 6,7 Prozent der weltweit gehandelten High-Tech-Exporte ausDeutschland, nur 3,6 Prozent aus China. Seitdem ist der deutsche Anteil zurückgegangen, und fast ein Viertel der weltweiten High-Tech-Güter kommt aus China. Grund sind die F&E-Erfolge des asiatischen Wettbewerbers. Beispiel Produktionstechnologie: Hier hat China seine Patentanmeldungen seit der Jahrtausendwende um den Faktor 52,8 vervielfacht (Deutschland: Faktor 1,5). Im europaweiten Vergleich ist das deutsche Patentaufkommen auf den niedrigsten Stand seit einem Jahrzehnt gesunken (Europäisches Patentamt 2023). Auch wenn es um die Gründung von Unternehmen geht, hängt Deutschland weit zurück (nur 44 Prozent im Vergleich zu den USA). Gemessen an der Anzahl der Erwerbstätigen ging die Anzahl der Gründer in den letzten 20 Jahren um rund ein Drittel zurück.
Trotz allem kann sich Deutschland in der Rangliste der innovationsstärksten Länder noch behaupten, und zwar durch den rasanten Aufstieg im Bereich der Nachhaltigkeitsinnovationen. Leider sind wir gleichzeitig bei den so wichtigen Schlüsseltechnologien im „Innovationsindikator 2023“ um drei Plätze abgerutscht. So kann es nicht überraschen, dass nur noch 25 Prozent der deutschen Geschäftsführer unser Land als ein „Erfinderland“ sehen. Auch der Anteil innovativer Unternehmen insgesamt ist in Deutschland innerhalb der letzten drei Jahre deutlich gesunken. Nur noch jedes fünfte deutsche Unternehmen kann heute als besonders innovativ bezeichnet werden. 2019 galt dies noch für jeden vierten Betrieb. Dagegen ist allein in den zurückliegenden drei Jahren der Anteil der Unternehmen, die nicht aktiv nach Neuerungen suchen, von 27 auf 38 Prozent gewachsen. Auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene lässt sich ein Rückgang der Innovationstätigkeit beobachten. So liegt der innovative Output – also die Gesamtheit aller erfolgreich umgesetzten Produkt-, Prozess-, Organisations- oder Marketinginnovationen aller Unternehmen – 2022 um 15 Prozent unter dem Niveau von 2019. Die Ergebnisse dieses Rückgangs lassen sich messen: Trotz europaweiter Rekorde bei den Patentanmeldungen sank das Aufkommen aus Deutschland um 4,7 Prozent auf den niedrigsten Stand seit mehr als zehn Jahren.
Gerade im Mittelstand ist der Investitionswille nach den Pandemiejahren gesunken. Die DZ Bank hatte Geschäftsführer im Frühjahr gefragt, in wiefern sie ihre Investitionsvorhaben in diesem Jahr verändern werden. Ergebnis: Bei langfristigen Zukunftsprojekten wie dem betrieblichen Innovationsmanagement (also F&E) und Produktinnovationen soll künftig gespart werden. Nur noch 68 Prozent der Mittelständler wollen in diesem Jahr Geld für Investitionen in die Hand nehmen – im Frühjahr 2019 sagten das noch 78 Prozent.
„Das niedrige Investitionsniveau im Mittelstand ist ein alarmierendes Signal, denn die Unternehmen bilden den Kern der deutschen Wirtschaft und sind oft Bindeglied globaler Lieferketten“
, sagt Stephan Ortolf, Leiter des Zentralbereichs Firmenkunden der DZ BANK AG ANK. Notwendig für eine wettbewerbsfähige Industrie ist ein starkes Forschungs- und Innovationssystem. Dieser Meinung ist auch Siegfried Russwurm, Präsident des BDI - Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. :
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„Innovationen sind entscheidend für die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie.“
Im Hinblick auf das schlechte Abschneiden des Standortes Deutschland im regelmäßig von dem Spitzenverband erhobenen „Innovationsindikator“ urteilt Russwurm:
„Die mittelmäßige Platzierung Deutschlands im Innovationsindikator ist mehr als ein Warnsignal. Unserem Innovationssystem fehlt es an Dynamik, Tempo und Flexibilität.“
Die Förderung von Forschung und Innovation ist geradezu eine Verpflichtung gegenüber der Zukunft. Im Gegensatz zur Subvention einzelner Unternehmen ist die staatliche Förderung von Forschung und Innovation gut angelegtes Geld. Forschungsförderung ist ordnungspolitisch richtig verstandene Industriepolitik.
Doch gerade hier wird die Bundesregierung ihren Aufgaben nicht gerecht. Zuletzt sind die F&E-Ausgaben in Deutschland sogar um 3,6 Prozent auf 170,5 Milliarden Euro gesunken. Dieser Trend ist für den Standort Deutschland brandgefährlich und muss dringend gestoppt werden. Die Bundesregierung muss die Brücke von der Forschung in Richtung Mittelstand stärken, damit auch in Zukunft die Ideen von Tüftlern, Denkern und Ingenieuren in Wertschöpfung und Wohlstand umgesetzt werden können.
Die Politik muss jetzt schleunigst umsteuern. Statt über Nachtragshaushalte, Investitionsprogramme und Subventionen nachzudenken, muss die Regierung Forschung, Innovation und Technologieförderung Vorfahrt einräumen. Am selbst gesteckten Ziel, den Anteil der Ausgaben für F&E am BIP bis 2025 auf 3,5 Prozent zu erhöhen, muss unbedingt festgehalten werden. Dabei muss insbesondere die Anwendungsorientierung der Forschung gestärkt werden.
Wichtig: Wirtschaft und insbesondere der Mittelstand müssen an allen relevanten Forschungs- und Innovationsstrategien der Bundesregierung aktiv beteiligt werden. Dabei kommt es darauf an, anwendungsorientiert zu denken und zu handeln. Wir brauchen keine Elfenbeintürme, sondern Fortschritt. Neben der Grundlagenforschung muss die anwendungsorientierte Industrieforschung zur zweiten Säule der Forschungs- und Innovationspolitik werden. Mittelstandsrelevante Budgets, wie etwa für das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM), die Forschungszulage oder für die wichtige Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF), müssen jeweils mindestens verdoppelt werden. Und nach wie vor mangelt es an Programmen, die das „Tal des Todes“ zwischen For schung und Wirtschaft zu überwinden helfen – es gibt zu wenig Unterstützung für den Übergang vom Prototyp in die Serienreife, hier stehen zu wenig Instrumente zur Verfügung.
Eines der größten Hemmnisse in unserem Land ist die Bürokratie – das gilt auch im Bereich der Forschung. Deutschland braucht mehr Ideen und weniger Formulare. Verwaltungsverfahren bei Förderprogrammen müssen erheblich beschleunigt und vereinfacht werden. Die Erprobung von Innovationen muss durch eingeschränkte Aussetzung von Regulierungen in Form von „Reallaboren“ und Experimentierklauseln ermöglicht werden, die anderenfalls mit dem bestehenden Rechts- und Regulierungsrahmen nur bedingt vereinbar sind. Und: Die Deckelung von Forschergehältern auf das Niveau des öffentlichen Dienstes bringt für geförderte privatwirtschaftliche Forschungseinrichtungen im in ternationalen Wettbewerb und für die Bemühungen, Spitzenforscher einzubinden, erhebliche Wettbewerbsnachteile. Deshalb muss das so genannte Besserstellungsverbot aufgehoben werden.
Schlüssel für das Wachstum von morgen ist die Innovationskraft des Mittelstands. Er ist das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft und zentraler Akteur zur Umsetzung von Innovationserfolgen am Markt. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen der Fördermaßnahmen attraktiver für KMU gestaltet werden. Für kleinere Unternehmen sollten höhere Förderquoten möglich sein (evtl. auch bis 100 Prozent oder „Innovationsgutscheine“ bis zu 15.000 Euro für kleine Projekte). Außerdem sollten Gründer sich auf den Betrieb konzentrieren, nicht auf Bürokratie. Sie sollen deshalb weitgehend von Bürokratie entlastet werden und im Rahmen einer „Gründerschutzzone“ von Auflagen im Steuer- und Arbeitsrecht, bei Melde und Statistikpflichten, bzw. mindestens von möglichen Bußgeldern bei fahrlässigen Verstößen befreit werden (siehe Report Seiten 20 bis 22). Innovationsorientierung muss als notwendige Form der Industriepolitik begriffen werden und ins Zentrum der Wirtschaftspolitik rücken. Eine effektive Forschungs- und Innovationspolitik, die den Mittelstand in den Blick nimmt und auf Fortschritt fokussiert ist, ist die beste Medizin gegen eine Deindustrialisierung in Deutschland, ist die bessere Industriepolitik. Es ist Zeit, umzusteuern.
Erschienen im Mittelstandsmagazin. Das Magazin der MIT für Entscheider in Wirtschaft und Politik, Ausgabe 03 2023/September 2023 (hier).