Wie unsere Suche nach der finanziellen Unabhängigkeit die Frage was wir mit dieser Freiheit machen, zudeckt
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Wie unsere Suche nach der finanziellen Unabhängigkeit die Frage was wir mit dieser Freiheit machen, zudeckt

Flo

Mein Freund Flo kam vor einiger Zeit vorbei. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten. Kein Akademiker, immer beschäftigt. Schon vom Anfang an ein Ziel vor Augen: Wenn es mal in die Rente geht, soll Geld vorhanden sein. Vor einem halben Jahr aus dem Angestelltenverhältnis ausgestiegen, hat er das sehr gut hinbekommen. Liquidität verfügbar. Finanz-Anlagen. Von der Betriebsrente kann er gut leben. Nun hat er sein Haus für eine knappe halbe Million verkauft. Zu Miete gezogen. Das Geld in einer Bundesanleihe für ein Jahr geparkt. Machte sich bereits Gedanken, was er im Herbst tun soll, wenn das Geld frei wird. Es fielen Begriffe wie „Gold“, ein „Safe“ und weitere Ideen. Seine Frau streckt die Arbeit, solange sie kann, denn sie sind keine Typen, die nur die Welt bereisen. „Das haben wir nie gemacht“, meinte er – „und das werden wir jetzt nicht ändern.“

Richard

Richard kenne ich seit ca. 15 Jahren. Kunde von mir, den ich mal bei der Frage nach einem Jobwechsel beraten habe. Der Kontakt ist geblieben. Vor einiger Zeit ist er mit Ende 50 aus einem großen deutschen Industriekonzern ausgestiegen. Lange Firmenzugehörigkeit. Weiterzahlung bis zum Vorruhestand. Dabei hätte er das nicht nötig. Großzügiger Immobilienbesitz in Süddeutschland. Vor einiger Zeit rief er mich an. „Ich habe meine Immobilienverwaltung nun auf den Vordermann gebracht. Nun habe ich noch die Teile der Welt gesehen, die auf meiner Liste standen. Ich suche jetzt eine sinnvolle Tätigkeit, denn ich möchte keinen Dauerurlaub machen.“

Timo

Timo kenne ich noch nicht so lange. Ebenfalls Kunde. Mitte 50 bei einem Automobilhersteller ausgeschieden. Meinte, über sein Netzwerk leicht etwas zu finden. Stellte sich als schwieriger heraus als angenommen. Die Höhe seines letzten Gehaltes war auch nicht hilfreich für den schnellen Anschluss. Nach einigen Absagen und der Feststellung, dass der Weg länger und schwieriger werden würde als vermutet, kam der Kassensturz. Ein Job wäre vielleicht schön für das Selbstwertgefühl, aber keineswegs notwendig. „Ich mache jetzt einen Trading- und Finanzmanagementkurs und bin dann mit meinem Handeln unabhängig.“

Die 4-Stunden Woche

Ich habe das Buch „Die 4-Stunden Woche“ von Tim Ferriss mit viel Freude gelesen. Er legt überzeugend dar, wie wir ein Geschäftsmodell aufbauen, das für uns arbeitet. Es versetzt uns in die Freiheit, zu tun was wir immer wollten. Wo das Buch zu Ende hätte sein können, wird noch ein letztes Kapitel nachgeschoben. Was nun anfangen mit dem endlosen Meer an Freiheit, während wir unter unserer Palme sitzen und lediglich vier Stunden unsere Kennzahlen überprüfen. Das bis dahin überzeugende Buch wird an dieser Stelle plötzlich arg dünn (meine Meinung) und bleibt der Antwort schuldig.

Heinrich Böll

Immer wieder lese ich gern die oft zitierte Geschichte von Heinrich Böll „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Sie ist derart bekannt, dass nur wenige Skizzen genügen: Ein Tourist erwischt einen Fischer mit seiner Kamera, schlafend, vor einer herrlichen Kulisse in seinem kleinen Fischerboot. Als sie ins Gespräch kommen, versteht der Touri nicht, dass der Fischer nicht mehr Elan an den Tag legt, sein Geschäft auszubauen. Nochmals herausfahren, Flotte vergrößern, Restaurant eröffnen, Personal einstellen. „Wozu?“ will der Fischer wissen. Die wortwörtliche Antwort: „Dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken.“ Worauf der Fischer erwidert: „Aber das tu ich ja schon jetzt“. Heinrich Böll lässt die Geschichte mit folgender Bemerkung ausklingen: „Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.“

Beobachtung diesseits und jenseits der Rente

Ich befinde mich in einer Lebensphase, in der ich einerseits Klienten bei der Erreichung ihrer Karriereziele unterstütze. Nicht selten ist der Traum dabei der Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit. Andererseits bin ich zunehmend von Personen umgeben, die sich fragen, was sie mit dieser Freiheit anfangen sollen.

Peter

Peter ist 68 und freiberuflich tätig. Er könnte sicherlich etwas ruhiger treten. Seine Arbeit ist für ihn Erfüllung. So denkt er zwar darüber nach, was er ändern könnte, aber nicht, wie er aufhören sollte zu arbeiten.

Johann

Johann ist Vollblutunternehmer, mir seit 1990 bekannt. Hat Unternehmen verkauft, ist bei anderen eingestiegen, hat neue gegründet. Hat nicht nur Produkte vermarktet, sondern auch sich selbst. Buchautor und Personal Branding. Ist für gewisse Themen der meistgebuchte Key-Note Speaker mit mittlerweile über 70.

Fabian

Fabian hat nach 40 Jahren sein Unternehmen der nächsten Generation übertragen. Seine Tochter (CEO) meint aber, dass er noch weiterhin Projekt im Betrieb übernimmt – neben einer Neugründung, die er mit 67 getätigt hat. Die größte Angst seiner Frau (meint seine Tochter), „dass er zu Hause herumsitzt“.

Mein Fazit

Nicht jeder hat im Berufsleben eine Tätigkeit ausgeübt, die er oder sie auch über den Ruhestand hinaus fortführen möchte. Auch stellt sich nicht für jeden die Frage nach einer sinnvollen, erfüllenden Tätigkeit als Rentner, denn viele sind dankbar für den neuen Lebensabschnitt. Und… für sehr viele wird sie die Sehnsucht nach mehr monetärem Spielraum bis zum Lebensende begleiten. Sie würden gern mal erleben, wie es ist, sich das Leben leisten zu können, welches sie sich wünschen. Die Frage nach einem erfüllten Leben wird als Luxusproblem abgetan.

Ich stelle allerdings fest, dass die Suche nach der finanziellen Unabhängigkeit bei vielen die Augen vor der Frage blendet, was dann mit der Lebenszeit angefangen werden sollte. Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass manche Energie besser in die Beantwortung nach dem individuellen Sinn des Lebens investiert werden sollte als in eine noch schnellere Erreichung der finanziellen Freiheit.

#careercoaching #outplacement #jobhunting

Beate Bösche

Es begeistert mich, wenn Menschen und Organisationen ihr einzigartiges Potential entdecken und beginnen, damit die Welt zu verändern. Ich unterstütze Sie als Coach und Beraterin auf dieser Entdeckungsreise.

9 Monate

Wow, lieber Vincent- richtig gut auf den Punkt gebracht! Was tun… wenn alles getan ist? Wenn man nichts mehr „müssen“ muss? Dann bleibt nur noch die Sinn- Frage: und wozu? Ich liebe dazu das Video https://m.youtube.com/watch?v=BOksW_NabEk& „How much Time you have in jellybeans“

Bernd Scharbert

Intercultural Leadership Experience: Leading intercultural diverse teams? And feeling there is opportunity for growth and to bring the Performance to the next Level? Let`s talk ▶ Support, Mentoring, Key-Notes.

9 Monate

Eine sehr schöne Zusammenfassung der Gedanken zur Sinnfrage, lieber Vincent G.A. Zeylmans van Emmichoven. Ich hatte mir mit 40 Jahren die Frage gestellt, welche Wünsche/Träume ich habe und mir vorgenommen, nicht bis zur Rente mit der Erfüllung zu warten. Mit der finanziellen Unabhängigkeit heute gelingt es mir gut, mir auf meiner Spielwiese der Selbständigkeit meine Themen selbst auszusuchen und zu gestalten. Dabei schaue ich tatsächlich gerne auf das Meer und genieße den Anblick, hin und wider und etwas öfter als früher.

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