Wo bleibt die Ruckrede für den Wirtschaftsaufschwung?

Wo bleibt die Ruckrede für den Wirtschaftsaufschwung?

Bei der Frage, was gut an Deutschland ist, fallen nach Auffassung von Hermann Simon zwei Diskrepanzen ins Auge. 

"Erstens: Das Ausland nimmt uns weitaus besser wahr als wir uns selbst. Zweitens: Momentan und kurzfristig hat Pessimismus die Oberhand, bei langfristiger Perspektive sieht es wesentlich besser aus. Im Sommer 2023 sind die Umfragen im Keller, der DAX bewegt sich hingegen auf einem Allzeithoch. Ich traue dem DAX mehr als stimmungsabhängigen Umfragen. Einen starken Vertrauensbeweis bilden ausländische Investitionen, Tesla in Grünheide, der Batterie hersteller CATL in Thüringen, Intel in Magdeburg, TSMC in Dresden. Diese Großprojekte sind nur die Spitze des Eisbergs. In einem Treffen mit 100 chinesischen Autozulieferern sagten mir alle, dass sie in Deutschland investieren wollen. Kurzfristig hat die deutsche Industrie große Probleme. Teilweise sind sie hausgemacht, etwa das zögerliche Angehen der Elektromobilität. Oft sind exogene Ursachen wie der Ukraine-Krieg verantwortlich. Im Gegensatz zu vielen halte ich eine Deindustrialisierung für notwendig. Unser Industrieanteil ist im Vergleich zu anderen hoch entwickelten Ländern zu hoch", so Simon in einem Statement für die Sonderveröffentlichung der Ludwig-Erhard-Stiftung. 

Bis zum Ende des Jahres hat sich die positive DAX-Entwicklung nicht geändert: Nur wenige Experten hatten das für möglich gehalten. Zu ihnen zählt Dr. Gertrud Rosa Traud , Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba). In ihrer Jahresprognose Ende 2022 hielt einen Index von 16.000 Punkte für möglich. Letztlich erreichte man 16.752 Punkte. 

Das passt zu unserem Exkurs zum doppelten Meinungsklima. 

Die Hoffnungen und Ängste sind häufig nur eine Projektion der veröffentlichten Meinung. Fragt man nach Dingen, die man selbst erlebt hat und überprüfen kann, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Etwa die wirtschaftliche Lage. Die eigene wirtschaftliche Lage wird seit dem Ende der Finanzkrise 2009 kontinuierlich als gut gewertet. Die Werte schwanken bei den Befragungen der Forschungsgruppe Wahlen zwischen 50 und 70 Prozent. Nur jeder zehnte Befragte sieht seine wirtschaftliche Lage zwischen 2009 und 2023 schlecht.

Durch den Angriff von Russland auf die Ukraine, durch die Inflation und eine leichte technische Rezession, die wir seit Ende des vergangenen Jahres erleben, gibt es wieder Nahrung für mehr Pessimismus. Das hinterlässt Spuren bei der Beurteilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage: Seit vier Befragungswellen ist die Fernsicht auf den Status quo der Volkswirtschaft in Deutschland kritisch. Das doppelte Meinungsklima schlägt wieder zu wegen der Dominanz eines negativen Medientenors. „Die mediale Verzerrung der Wirklichkeit lässt sich in vielen Bereichen des Alltags ständig beobachten“, sagt Edgar Piel, der frühere Sprecher des Instituts für Demoskopie Allensbach. Etwa beim Vertrauen in die Politik oder bei der Einschätzung von Stress und Glücksgefühlen in der Politik. „In fast allen Bereichen gibt es das doppelte Meinungsklima: die eigene Situation wird mehrheitlich gut beurteilt, aber man fühlt die eigene Situation als Ausnahme, weil man das Allgemeine ja nur aus den Medien kennt – und glaubt“, erläutert Piel. Dieses Phänomen eines „doppelten Meinungsklimas” müsste zur Grundausbildung von Journalisten gehören, stört aber in der Praxis doch sehr bei der Zeichnung und Dramatisierung von Stimmungsbildern. Siehe auch: Mittelstand im innovativen Aufschwungmodus – Medientenor leider nicht.

Es gibt doch sehr viele Gründe für Optimismus: So waren Im Jahresdurchschnitt 2023 rund 45,9 Millionen Menschen mit Arbeitsort in Deutschland erwerbstätig. Das waren so viele wie noch nie seit der deutschen Vereinigung im Jahr 1990. Nach einer ersten Schätzung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) stieg die jahresdurchschnittliche Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 333 000 Personen (+0,7 Prozent). Die Zahl der Erwerbstätigen erreichte damit einen neuen historischen Höchststand, nachdem bereits im Jahr 2022 der vormalige Höchstwert aus dem Jahr 2019 (45,3 Millionen Personen) um 320 000 überschritten worden war. Eine Ursache für die Beschäftigungszunahme im Jahr 2023 war die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte. Hinzu kam eine gesteigerte Erwerbsbeteiligung der inländischen Bevölkerung. Diese beiden Wachstumsimpulse überwogen die dämpfenden Effekte des demografischen Wandels auf den Arbeitsmarkt, der mittelfristig zu einem deutlichen Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter führen dürfte. Also gute Gründe für Zuversicht.

Oder schlichtweg Pragmatismus, wie ihn Andreas Eschbach zum Ausdruck gebracht hat: „(Z)u allen Zeiten suchen die Menschen das Paradies, aber was immer sie auch anstellen, das Leben wird immer dieses seltsame Chaos bleiben, das man nie ganz zu fassen kriegt. Immer wird es Freude geben und Leid, immer Geburt und Tod: zu allen Zeiten wird man Niederlagen und Heimtücke und Hass kennen – aber auch Siege, Ehrlichkeit und Liebe ….“. Nachzulesen in: “Der Mann aus der Zukunft” in dem Eschbach-Band “Eine unberührte Welt”. Hinweis von Professor Lutz Becker in einem ichsagmal.com-Kommentar.

Um wieder in den Aufschwung-Modus zu kommen, brauchen wir übrigens mehr Optimismus. Darauf hat der Informatik-Professor Karl Steinbuch bereits 1979 hingewiesen. Steinbuch berechnete, dass eine seit 1949 jeweils zum Jahresende vom Institut für Demoskopie Allensbach gestellte Frage „Sehen Sie dem neuen Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen“ in dem Prozentsatz der Antworten „mit Hoffnungen“ der Entwicklung des realen Bruttosozialprodukts vorauseilt. Der Verlauf des Optimismus folge nach Erkenntnissen von Steinbuch wie das Wachstum des Bruttosozialprodukts Zyklen mit einer Dauer von etwa vier bis fünf Jahren und der Optimismus in der Bevölkerung hinke nicht hinter der Konjunktur her, sondern gehe ihr voraus: Zuerst Optimismus, dann Wachstum.

Bei den Hoffnungen liegen wir in Deutschland ungefähr auf dem Niveau von 1950 zur Zeit des Korea-Krieges. Das war der Tiefpunkt, dann ging es wieder steil bergauf – mit den Hoffnungen und mit der Konjunktur. 

Bislang folgten nach den Tiefpunkten recht steile Anstiege bei den Hoffnungen. Es fehlt dafür allerdings so eine Art Roman-Herzog-Ruckrede, um wieder die Ärmel hochzukrempeln und ordentlich für Innovationen zu sorgen - in Staat und Wirtschaft. Etwa bei der Ernährungswende.

In einer weiteren aufschlussreichen Episode unserer Gesprächsreihe mit Friedrich Büse tauchen wir in die Thematik der effizienten Ressourcennutzung und der Potenziale pflanzenbasierter Materialien ein. Büse, ein Pionier in Sachen Nachhaltigkeit, beleuchtet innovative Wege, wie wir durch den Einsatz alternativer Rohstoffe wie Erbsen- und Ackerbohnenfasern den Wasser- und Energieverbrauch senken können – selbst wenn diese Ansätze derzeit noch kostenintensiv sind.

Das Kernargument des Interviews ist die Notwendigkeit, unsere Rohstoffe sinnvoll zu verwerten, um eine nachhaltige Wertschöpfungskette zu etablieren. Büse kritisiert dabei die derzeitige Praxis, pflanzliche Stärke indirekt für die Fleischindustrie nutzbar zu machen, und plädiert stattdessen für eine Verwendung, die den ökologischen Fußabdruck minimiert. In seiner Vision werden Nebenprodukte wie Fasern in der Papierproduktion eingesetzt, während Stärke zur Energieversorgung von Kulturen im Laborfleischbereich dienen könnte. 

Innovation trifft Tradition: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lebensmittelwirtschaft, so könnte man die Gesprächsreihe mit Friedrich Büse zusammenfassen. Einschalten am Dienstag, 9. Januar, 12 Uhr. Auf LinkedIn und im Multistream auf meinen Accounts bei YouTub, Twitter-X und Co.

Lutz Becker

"Handle stets so, dass die Zahl Deiner Möglichkeiten wächst." (Heinz von Foerster)

12 Monate

Da schließe ich mich Gunnar Sohn gerne an, Heinz Paul Bonn: Klasse. Nach vorne schauen…

Frank H. Witt

Science, Consulting & Investment; AI Applications & Development Dusseldorf & Bonn, Germany, San Ġiljan, Malta

12 Monate

Gute Analyse der Diskrepanz zwischen individuellem Erleben und mediatisierten Erleben sozialer Veränderung Prozesse auf der einen Seite und beschleunigten wissenschaftlich technologischen Fortschritt, mehr oder minder zwangsläufig, auch begleitet von einer zunehmenden Geschwindigkeit der Veränderung sozialer Systeme und Strukturen, sprich: soziokultureller Evolution. "Nichts bleibt wie es ist" und damit verändern sich auch die Voraussetzungen wirtschaftlichen Erfolges, das führt unabhängig von dem tatsächlichem Leidensdruck zu einem weitverbreiten Ressentiment konservativer Milieus zu denen bspw, das Sinus Institut knapp die Hälfte der Bevölkerung zählt. Einer Analyse die sich in ähnlicher Form schon bei Marx in seiner Analyse der Reaktion auf die Bewegungen im März 1848 findet: In Deutschland bildet das […] Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.“ Die Selbstabgrenzung und der Pessimismus gegenüber der Zukunft und das erdichten vergangener besserer Zeiten sind auch identitätsstiftende Merkmale in der heutigen Zeit.

Heinz-Paul Bonn

CEO bei Bonn-Consulting

12 Monate

Lieber Gunnar: das ist mein Versuch einer Ruckrede👍❤️ Der neue BonnBlog : „Sind wir noch zu retten? Wir sollten an uns glauben! Wir sollten an uns glauben! Den aktuellen Bonnblog finden Sie hier. Sind wir noch zu retten? www.hpbonn.consulting ❤️

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