Zeitz, wertvoller Erinnerungsort Mitteldeutschlands.
Stadt Zeitz, du bist ein Erinnerungsort, und wir danken für die Einblicke und dafür, dass wir alles sehen durften. Wir waren einen Tag zu Besuch, fotografierten bei herbstlich anmutendem Wetter, gingen kreuzquer durch die Stadt, hörten, dass wir nicht nur Ruinen festhalten sollten, und waren baff über das Ambiente der Stadt. Unverstellte Geschichte. Fabriküberreste und leere Häuser, unermesslich wertvolles kulturelles Erbe, wohin das Auge schaut, und eine langsam fortschreitende Sanierung. Wir haben es verstanden, in Ansätzen zumindest. Wir sind losgegangen und wurden berührt, und kommen wieder.
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Es begann ja schon wie ein Traum, als wir vom Bahnhof aus in Richtung Zentrum liefen, rechterhand eine wunderschöne Kirche liegen sahen (die frühere katholische, wie wir später erfuhren), uns tatsächlich fragten, ob Kirchen überhaupt aufgegeben werden und verwaist liegen – und dann vor den Ruinen der Nicolaikirche standen. Da blieb uns wirklich die Luft weg. Freilichtmuseum in situ und ohne Museumsdirektor und Kassenpersonal: zugewachsene Fenster und Mauern, ein verwilderter Garten, der den Müll der vergangenen zwei Jahrzehnte enthält, verwaiste Schaukeln, zerfallende Eingänge. Das Dach war, wie ein erstes Recherchieren später enthüllen sollte, von Bränden zerstört, und die zuletzt heruntergefallenen angekohlten Balken lagen mit Dachschiefern im Grün ringsum oder verwuchsen. Der Großteil liegt wohl noch auf dem Kreuzgewölbe, das – mittlerweile löchrig – noch hält, während der Rest, alles hölzerne Innenleben, auf Haufen zusammengefallen ist. Das war der erste sprachlose Moment des Tages, und es hörte an solchen Eindrücken nicht auf.
Leere Fabrikgebäude, gesichert mit Wetterplanen, oder gar mit teilweise neuen Dächern versehen. Oder älter, die verkleideten Fenster und Türen mit Schlupflöchern, mit Verwitterungserscheinungen um die Eindringstellen des Wassers. Wir gehen benommen durch die Straßen, und sind beeindruckt. Wir verspüren Entdecker-Freude, aber wie kann man das einem Einwohner von Zeitz sagen? Weil sie ihre Geschichte nicht verstellt haben? Das kann als Häme oder Spott empfunden werden, aber es ist keines von beiden. Es ist das Gefühl beim Betrachter, auf einer Zeitreise zu sein, und man möchte allen sagen: ‚Mein Gott… Eigentlich ist das hier ein Potential, was es woanders nicht mehr gibt.‘ Weil an anderen Orten alles vergeben ist, weil die Preise ins Unendliche steigen, weil sich woanders Gruppen und Schaffende keine Räume leisten können, oder vor festen Strukturen stehen und nicht wissen, wie sie sich verselbständigen können. Es ist Wahnsinn, tausende Gedanken trudeln im Kopf umher, während wir hier und dort sprechen und schauen, zerfressenen Sandstein betrachten, alte Haustüren sehen, die alten Aufschriften auf den Häusern aus Jahrzehnten enträtseln. Während wir überlegen, wo wir einkehren könnten wegen der Kälte und dem Wind, und immer weitere Ecken entdecken, und weitergehen – hier ein Ensemble, dort eine Baustelle, hier gefundene Scherben mit Knochen, dort alte Mauerreste aus dem 18. Jahrhundert und älter, immer älter. Noch ein geschlossenes Café, erst ab 14 Uhr offen, dahinter wieder eine Ecke mit zerfallenen in die Hausgrundrisse gefallenen Gauben, mit alten Zimmerfarben, Stuck, erahnbaren Wohnstrukturen. Der freundliche Empfang in einem Hotel. Immer weiter. Ein kleines Mädchen ruft über die Straße: ‚Habt ihr Fotoapparate dabei?‘ ‚Ja.‘ Stark befahren der Abschnitt, wir schauen mit wegen der Autos, dann kommt sie, und warum wir die Klingeln fotografieren, will sie wissen. ‚Na weil das alles schön hier ist.‘ Drei Brüder habe sie, und sie sei das jüngste Geschwisterlein in der Familie. Na und hier drüben wohnt ein Kumpel ihrer Mama, und so weiter, schlenkert dabei ihr Waveboard um sich rum, und währenddessen dröhnen die Autos vorbei.
Eine ältere Dame berichtet von den Stadtsagen und wo wer in welcher Kirche gepredigt hat. Sie weiß noch genau, wo was war, welcher Bäcker dort wohnte, welche Häuser was enthielten. Wir sind dankbar. Alte Litfaßsäulen stehen an Straßenecken, alte Plakate, wenig Neues ankündigend. Das Schloss saniert, die Kirche dort besucht, viele Kirchgänger strömen, Gesangsbücher oder andere Hände in den eigenen, Gespräche und Verabschiedungen vom Gottesdienst, Heimfahrten. Wir werfen einen Blick in den Schloßhof, nehmen alles erst einmal auf in das eigene Gedächtnis, orientieren uns, und gehen schnell wegen des Windes, an Parkanlagen und einer Einkaufspassage mit Kino vorbei. Es gibt viel Neues auch, Saniertes, prachtvoll restaurierte Fassaden. Aber in Zahlen ausdrücken können wir es nicht.
Discounter von Schuhen und Drogerieartikeln haben die Ladenzone in der Innenstadt verlassen, selbst die Geschäftsflächen der vor einem Jahrzehnt sanierten Gebäude stehen häufig leer, an einer Stelle vier nebeneinander. Vier Mal saniert, vier Mal leer, nur der Abdruck der verschwundenen Buchstaben über den Eingängen. ‚Fotografieren sie die Ruinen‘ sagt traurig und freundlich eine Frau später und geht über die Straße. Wir wissen nicht, was erwidern, wir wissen nur, dass das hier einmalig ist. Dass manche Bewohner leiden, und bestimmt viel Schlechtes über ihre Stadt gehört und gelesen haben mögen, und auch Gutes – aber dass das Alte überwiegt und nicht gern gesehen wird. Hochwasserschäden der letzten Jahre, noch immer nicht behoben, gesperrte Brücken, abgenommene Wandverkleidungen, Inschriften mit Namen und Liebesbotschaften und ein paar durchgestrichene Hakenkreuze. Wo gab und gibt es das nicht? Zerbröckelnder, runterfallender Putz, eingestürzte Holztreppenhäuser. Gardinen aus Fenstern, Regenrohre, die ins Nichts führen, und Figuren an Wänden und Dächern aus Jahrhunderten stammend. Konsum- Gebäude und -Läden, DDR-Beschriftungen, DDR-Schilder teilweise, dann wieder Mauern von Jahrhundertalter, Fresken, alles auf einmal nebeneinander. Im Zentrum die Straßenzüge zu 90% bewohnt, hundert Meter abseits manchmal zu 90% leerstehend. So ist es eben.
Zwei Kaffee zum Aufwärmen in einem Restaurant, die klammen Hände wärmend. Ein grobes Ziel auf den herausragenden Dächern gibt die neue Richtung vor, und auf dem Weg wieder Dutzende Ecken, die vorher anziehen. Ein Brauereigelände zum Beispiel. Ein Mann berichtet, er sei vor 20 Jahren auch schon dort gewesen, und es habe eigentlich auch schon damals so ausgesehen, nach der Wende. Ironisch zitiert er Politikworte: ‚Wir schaffen das‘, und wir tauschen uns aus. Hier versteht man alle Meinungen und Äußerungen. Hier – das heißt als Besucher, der einfühlsam zuhören kann, der erfragt und einfach zuhört. Hier heißt auch, inmitten alter Gebäude mit der Kamera um den Hals die baulichen Details festhaltend, die geschriebenen Bilder und Schriften, die Sachkultur aus vielen Jahrzehnten Geschichte, und die Baukultur der Jahrhunderte erahnend. Es ist ein herzliches verstehendes Gespräch. Dann möchte er seiner Frau hinterher.
Es wurde Zeit, heimzufahren. Die Außenansicht der Villa des Fabrikanten Naether bildete vorerst den Abschluss, bevor wir einen Weg zum Bahnhof einschlugen, den wir wieder vier- oder fünf Mal staunend unterbrachen. ‚Fotografieren die die alten Dinger, sollen lieber andere Bilder machen‘, meint ein Mann im Vorbeigehen zu seiner Frau. Was solls, auch das Neue werden wir fotografieren, aber heute haben wir erstmal verstanden, um was es geht. Und verlassen die Stadt beeindruckt. Wir kommen wieder, mit Ideen, mit Verständnis, und werden auch auf die geäußerten und nichtsprachlichen Bitten eingehen, die Veränderung zu zeigen. Übrigens waren alle Rückmeldungen, die wir bis jetzt erhielten, positiv. Weil sich alle daran freuten, in Zeitz unverstellte Geschichte sehen zu können. Denn wisst Ihr: Saniert man die Häuser, saniert man auch die Köpfe und die Erinnerung. Kein Museum, keine neue Erinnerungstafel, kein Ausdruck, keine Vermittlung kann allein bewirken, dass man lernt und begreift. Dazu bedarf es auch des Losgehens, des Fragen und Zuhörens.