Macht "Hirnkram" im Seminar wirklich schlauer? Es kommt darauf an!
In einer Welt, in der künstliche Intelligenz immer intelligenter wird und die Komplexität der menschlichen Aufgaben entsprechend zunimmt, ist die wissenschaftliche Fundierung von Trainings und Seminaren kein Luxus mehr, sondern eine Notwendigkeit. Veranstaltungen mit einem Niveau unter dem heute schon beeindruckenden Intelligenzniveau von ChatGPT machen sich selbst überflüssig und leisten keinen ergebniswirksamen Weiterbildungsbeitrag mehr. Die Frage ist jedoch: Was bedeutet es, ein Seminar auf "wissenschaftlichem Niveau" zu halten? Gerade wenn es um die Integration von Erkenntnissen aus der Hirnforschung geht, wird die Antwort komplex.
Das Dilemma der "Wissenschaftlichkeit
Wissenschaftlichkeit wird häufig als eine Art "Gütesiegel" für Trainingsmethoden und -inhalte verwendet. Dabei wird jedoch übersehen, dass empirische Wissenschaft nicht dazu dient, einfache Antworten oder "Erfolgsrezepte" zu liefern. Vielmehr besteht die Gefahr einer unzulässigen Komplexitätsreduktion, wenn versucht wird, komplexe Phänomene wie menschliches Verhalten und Lernen auf simplifizierte neurobiologische Mechanismen zu reduzieren. Die daraus resultierenden pseudoevidenten Verschreibungen sind oft banal, manchmal sogar gefährlich, wenn sie problemerzeugenden mechanistischen Steuerungs- und Regelungsphantasien Vorschub leisten.
Wissenschaft als Methode statt nur als Ergebnislieferant
Erfolgversprechender ist es, die Methoden der Wissenschaft selbst zu vermitteln. Dies entspricht dem Scientist-Practitioner-Modell, das aus der Psychologie und benachbarten Disziplinen bekannt ist. Durch eine entsprechende wissenschaftliche Qualifizierung können Learning & Development Professionals sowohl als wissenschaftlich handelnde Praktiker als auch als praktisch handelnde Wissenschaftler agieren. Warum ist dies für PsychotherapeutInnen, LehrerInnen, viele Profis in der Sozialen Arbeit u.ä. eigentlich selbstverständlich, während wir in der betrieblichen Weiterbildung immer noch meinen, mit ein paar Train-the-Trainer-Ausbildungen, aber ohne entsprechende wissenschaftliche Fundierung auszukommen? Vermutlich, weil wir die existenzielle Bedeutung des Lernens im Betrieb noch nicht ganz erkannt haben. Spätestens seit dem für viele existenzbedrohenden Fachkräftemangel sollte es jedoch auch dem Letzten dämmern, dass von der kognitiven und persönlichen Weiterentwicklung der Menschen das Wohl und Wehe von Wirtschaft und Gesellschaft abhängt.
Transdisziplinarität statt intellektueller Monokulturen
Doch wie bilden wir aus? Ist die viel beschworene Hirnforschung wirklich der Stein der Weisen? Allein wohl kaum - in Kombination mit einem disziplinübergreifenden Spektrum an Wissenschaft und Praxis kann sie sehr wohl einen wertvollen Beitrag leisten! Um das Ziel eines Scientific Upskillings zu erreichen und unsere Weiterbildner aus den inzestuösen Echokammern humanistischer und systemisch-konstruktivistischer Welten herauszuholen, wäre jede Form von Naturwissenschaft gut - Biologie, Experimentalphysik oder Informatik. Alles, was Lern- und Entwicklungsakteure fit macht für die von harten Fakten und Zahlen getriebene Welt der Entscheidungsträger, wäre hilfreich. Nur haben die Neurowissenschaften den Vorteil, dass sie nicht nur formal, sondern auch inhaltlich unmittelbar relevant sind und damit direkt anschlussfähig an die Welt der Trainer, Berater und Coaches. Dieser unmittelbare Erklärwert macht die Anwendung der Hirnforschung in der Praxis plausibel, auch wenn die Teilnehmer erst später erkennen, dass der viel tiefer gehende Nutzen in der Anwendungskompetenz für empirische Methoden und in der Fähigkeit liegt, das eigene Handeln professionell und evidenzbasiert weiterzuentwickeln.
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Dabei hat es sich als entscheidend erwiesen, auch naturwissenschaftliche Filterblasen zu vermeiden, da man sonst sehr schnell in einem reduktionistischen Materialismus festhängt, der in seiner Unterkomplexität als Innovationsquelle für das Learning and Development noch untauglicher sein dürfte als der Status Quo der Personalentwicklung. Hinderk M. Emrichs Erwiderung auf Gerhard Roths Vortrag "Wie das Gehirn die Seele macht" aus dem Jahr 2001 hat unverändert Gültigkeit: Praxispartnerin kann nur eine nicht-reduktionistische System-Neurobiologie sein! Die Aufgabe besteht also darin, für die Weiterbildung einen transdisziplinären Ansatz zu wählen, der geisteswissenschaftliches und naturwissenschaftliches Denken miteinander verbindet. Dies ermöglicht eine ganzheitlichere Sichtweise und vermeidet die Gefahr einer unzulässigen Komplexitätsreduktion. Besonders gut gelingt das an den Schnittstellen des bio-psycho-sozialen Systems.
Zukunft der Weiterbildung
Die Zeiten, in denen es ausreichte, nur Wissen zu vermitteln und definierte Kompetenzen zu entwickeln, sind vorbei. Wer in der vierten industriellen Revolution bestehen will, muss in der Lage sein, wissenschaftlich fundierte Entscheidungen zu treffen und komplexe Probleme zu lösen. Statt also nur "mundgerechte", "didaktisch reduzierte" wissenschaftliche Ergebnisse in unsere Weiterbildungen zu integrieren, sollten wir uns und unsere Teilnehmer in wissenschaftlichem Denken und Handeln schulen - am besten zunehmend anhand von Primärquellen außerhalb des jeweils eigenen Studienfachs. In einer immer komplexer werdenden Welt ist die Fähigkeit, sich schnell in neue Fachgebiete einzuarbeiten, ohnehin eine der wichtigsten Metakompetenzen, die auf diese Weise erworben werden können. So können wir den Anforderungen der Zukunft vielleicht schneller gerecht werden und das Modewort "Future Skills" in gelebte Weiterbildung umsetzen.
Als Gedankenfutter zur Wochenmitte hierzu ein - mit ca. 16 Minuten - etwas längeres Video
Euch noch eine erfolgreiche Woche
und auf bald,
Franz
Geschäftsführer bei Heisetraining | Managementtraining, Coaching, Organisationsentwicklung, PSI-Kompetenzberater, Agiles Führen.
1yGanz meine Meinung!
Vitalität und Wirksamkeit – für Unternehmer und Führungskräfte. #LifeChangingScience
1ySich über das Denken Gedanken zu machen bzw. sich ein Verständnis zu den Bedingungen unseres Seins fortlaufend zu erarbeiten, ist in einer sich exponentiell entwickelnden Wissensgesellschaft kein philosophischer Luxus, sondern Notwendigkeit.
💥Catalyst for Confidence and Consciousness | Facilitating Generative Change and Conscious Leadership with Online-Coaching and Mastermind Groups for Entrepreneurs and Intrapreneurs | High Performance Team Coaching
1yMit dir „Hirnkram“ zu lernen, macht so viel Spaß. Und da man dabei intelligenter wird und das dann auch noch in der eigenen Arbeit nutzen kann, ist das ROI nicht mit Geld aufzuwiegen. Wie heißt es doch so schön, wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Während allgemein der IQ in den westlichen Ländern in den letzten 30 Jahren gesunken ist, sollten Trainer, Berater und Coaches darauf achten, ihre multiplen Intelligenzen zu schulen - Hirn, Herz, Intuition und die Ästhetische Intelligenz, wie alles in bestimmten Kontexten zusammenpasst.
Business Coaching, Storytelling, Kommunikationstraining, Präsentationstraining, Medientraining (DE, ESP, EN) anjatimmermann.de | storytelling-symposium.de
1yDu hast das Thema Wissenschaftlichkeit und was es uns angeht mal wieder so richtig unterkompliziert wie nötig auf den Punkt gebracht, Dr. Franz Hütter