Im zweiten Kriegswinter weitet sich die humanitäre Katastrophe in Gaza aus. Erneut verstärkt Israels Armee die Angriffe auf das Flüchtlingslager Dschabalija im Norden des Küstenstreifens – nach eigenen Angaben, um gegen Terroristen der Hamas zu kämpfen, die sich dort versteckt halten. Im Fokus steht das Kamal-Adwan-Krankenhaus, in dem in der vergangenen Woche 240 Terroristen festgenommen worden sein sollen, darunter der Klinikleiter, Hussam Abu Safeia. Unter den Festgenommenen, so Israel, sollen mehrere Beteiligte der Massaker vom 7. Oktober sein.

Wie Israels Armee erklärte, sei das Krankenhaus "vorerst stillgelegt", Patienten seien ins nahe gelegene Indonesische Krankenhaus gebracht worden. Am Freitag berichtete die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa, dass Israels Armee nun auch das Indonesische Krankenhaus räumen wolle. Das dementierte die Armee, die allerdings in den vergangenen Tagen widersprüchliche Aussagen verbreitet hatte. Ebenfalls am Freitag bestätigte die Armee etwa, dass Hussam Abu Safeia weiterhin wegen Terrorverdachts inhaftiert sei. Auch dies war zuvor dementiert worden.

Was wirklich passiert, lässt sich nur annäherungsweise erschließen

Auch über den Zustand des Indonesischen Krankenhauses gibt es widersprüchliche Berichte. Wie etwa die Tagesschau berichtete, soll die Klinik "zerstört und nicht funktionstüchtig" sein. Im Zusammenhang mit Meldungen über die drohende Räumung bezeichneten andere Medien das Krankenhaus dagegen als letztes noch funktionierendes. Es ist nicht möglich, diese Informationen zu überprüfen. Israel verwehrt Journalistinnen und Journalisten weiterhin den Zutritt zum Gazastreifen. Was wirklich passiert im Norden des Gazastreifens, das lässt sich nur annäherungsweise erschließen.

Nach Informationen der israelischen Zeitung Ha'aretz soll Dschabalija vollständig von Gaza-Stadt abgeschnitten sein. Demnach gebe es bisher keine Pläne, der von dort vertriebenen Bevölkerung die Rückkehr zu erlauben, da dies einer "politischen Entscheidung" bedürfe. Dass es zu einer solchen Entscheidung kommt, ist nach den Entwicklungen der vergangenen Monate unwahrscheinlich. Zum einen fordern radikale Siedler immer lauter eine erneute Besatzung und Besiedelung des Gazastreifens und erhalten dabei politische Rückdeckung durch die teils rechtsextremen Koalitionsmitglieder in der Regierung von Benjamin Netanjahu.

Zum anderen fehlt weiterhin eine offizielle Strategie für ein Kriegsende in Gaza. Die jüngsten Entwicklungen stützen vielmehr die Befürchtung, die israelische Medien bereits vor einem halben Jahr diskutierten. Im vergangenen Sommer etwa berichtete der Ha'aretz-Autor Aluf Benn mit Verweis auf Militärquellen, dass Netanjahu eine Teilung des Gazastreifens anstrebe, mit dem Ziel, die Kontrolle über den Norden zu behalten. Der südliche Gazastreifen hingegen solle der Hamas überlassen werden, "die sich unter israelischer Belagerung um die mittellosen Bewohner kümmern muss, selbst wenn die internationale Gemeinschaft das Interesse an der Geschichte verliert und sich anderen Krisen zuwendet".

Zuletzt konzentrieren sich die Kämpfe auf den Norden und die Mitte des größtenteils zerstörten Küstenstreifens. In der Nacht zum kalendarischen Neujahr schoss die Hamas zwei Raketen auf Israel, dessen Armee daraufhin den Ort Bureidsch angriff, aus dem die Geschosse abgefeuert worden sein sollen. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden dabei 17 Menschen getötet, wobei diese grundsätzlich keine Angaben darüber macht, ob es sich um Zivilisten oder Hamas-Kämpfer handelt.

Israels Armee meldet dagegen Todesfälle. Am Montag etwa wurde ein Soldat im Norden Gazas durch eine Panzerabwehrrakete getötet, drei weitere sollen schwer verwundet worden sein. Der Vorfall sorgt, zusammen mit den jüngsten Raketenbeschüssen aus Gaza, innerhalb Israels für eine neue Debatte über den Gazakrieg. "Wir sehen weiterhin keinen Durchbruch bei der Frage, was nach dem Krieg passiert, wie sich die humanitäre Lage verbessern lässt, keinen Fortschritt bei der Freilassung der israelischen Geiseln", sagte dazu Politikanalyst Michael Koplow im Israel Policy Podcast diese Woche. Vor allem sei das erklärte Ziel Israels, die Hamas als Ganzes zu besiegen, bisher nicht erreicht. 

Diplomatische Lösung weiterhin nicht in Sicht

Dennoch zeichnet sich eine diplomatische Lösung weiterhin nicht ab. Seit Wochen ringen Verhandler aus den USA, Ägypten und Katar um ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas über eine Waffenruhe und die Freilassung der noch rund hundert israelischen Geiseln. Seit dem Wochenende finden Gespräche in der katarischen Hauptstadt Doha statt.

Während sich ein israelischer Regierungsbeamter gegenüber dem israelischen Nachrichtenportal Walla "vorsichtig optimistisch" zeigte, bekräftigte die Hamas in einer Erklärung, weiterhin auf eine "endgültige Beendigung der Kampfhandlungen" in Gaza zu bestehen. Das lehnt Israel ab. Die Regierung verlangt stattdessen eine mehrstufige Vereinbarung von Feuerpausen und hatte wiederholt erklärt, eine Pufferzone im Norden Gazas einrichten zu wollen, "um zu verhindern, dass die Hamas oder andere Kämpfer nach Israel eindringen oder Israel angreifen", wie etwa die Nachrichtenagentur Reuters im Dezember vor einem Jahr einen namentlich nicht genannten israelischen Sicherheitsbeamten zitierte.

Die Berichte über die Räumungen des Indonesischen sowie des Kamal-Adwan-Krankenhauses verstärken indes die Sorgen von internationalen Hilfsorganisationen vor einer gezielten Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Norden Gazas. Die Weltgesundheitsorganisation WHO etwa erklärte, die "systematische Demontage des Gesundheitssystems im Gazastreifen" käme einem "Todesurteil" für Zehntausende gleich, die eine medizinische Versorgung benötigten. Nach den ersten schweren Winterstürmen im Nahen Osten hatte es in der vergangenen Woche Berichte über geflutete Notunterkünfte und Feldkrankenhäuser in Gaza gegeben. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde meldete, dass fünf Säuglinge infolge der Kälte gestorben seien.

Das UNRWA muss die Arbeit einstellen

Wie die New York Times am Samstag berichtet, stellt sich das UNRWA, das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen, darauf ein, seine Arbeit im Gazastreifen wie auch im israelisch besetzten Westjordanland demnächst einzustellen. Grund dafür sind zwei von der israelischen Regierung verabschiedete Gesetze, die in den kommenden Wochen in Kraft treten sollen und die die Arbeit des UNRWA verbieten. Israel wirft der Hilfsorganisation vor, dass 18 Mitarbeitende am Hamas-Angriff auf Israel beteiligt gewesen sein sollen. Laut New York Times sollen "mindestens 24 Mitglieder" der Hamas und der Terrorgruppe Islamischer Dschihad an UNRWA-Schulen beschäftigt gewesen sein.

Seit Kriegsbeginn übernimmt das UNRWA allerdings die Überwachung von Hilfslieferungen und den Betrieb von Krankenhäusern und Notunterkünften. Das Verbot hatte auch in Israel für Diskussionen gesorgt – angesichts einer fehlenden Alternative, um die Menschen im Gazastreifen zu versorgen.