20 Jahre Selbstständigkeit
Kein Witz: heute vor 20 Jahren habe ich mich am 1. April 2004 selbstständig gemacht. Der richtige Zeitpunkt, zurückzublicken.
Ich kann mich noch sehr genau an den ersten Arbeitstag im eigenen Büro im ersten Stock der Lachmannstraße in Braunschweig erinnern: dieses Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit, dass ich meine eigenen Ideen fließen lassen kann und mir so viel Zeit nehme, um ein Designproblem zu lösen.
Ohne einschränkende Vorgaben durch einen Vorgesetzten, ohne Zeiterfassung und ohne Kollegen, die ihre eigene Karriere fest im Blick haben, ohne das Gefühl, stets zu einer Minderheit im Büro zu gehören oder gute Ideen in den Papierkorb werfen zu dürfen. Kurz gesagt: selbstverantwortlich für sich selbst zu sein.
Dies alles waren Gründe, die aus der vorherigen Anstellung begründet waren. Bis heute sind viele dieser Gründe geblieben: der Wunsch, etwas mit der eigenen Arbeit zu bewirken. Designprobleme zu identifizieren und sie zusammen mit einem Team zu lösen. Die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine zu erleichtern und zur Vermittlung komplexer Themen - in allen Designbereichen. Daher hieß dann auch mein etwas später gegründetes Unternehmen Cogneus - ein Kunstwort für "gut erkannt".
Meine Motivation ist also intrinsisch begründet; das Beste, das einem Kreativen passieren kann, um durchzuhalten und Widrigkeiten zu bestehen.
Würde ich diese Entscheidung heute noch einmal treffen? Ein klares Nein.
Das liegt u.a. in der Auffassung von Design in Deutschland, in der hessischen Provinz und in der "Angestelltenrepublik" begründet, wie sie Sascha Lobo so treffend bezeichnet.
Was ich seit 20 Jahren erfahre, sind große Widerstände. In der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und letztlich sogar im familiären Umfeld. Was meine ich damit? Nach Steuer- und Unternehmensrecht bin ich ein Einzelunternehmen und Freiberufler. Als Diplom-Designer bin ich zudem in der Künstlersozialkasse aufgenommen, d.h. der Staat springt quasi als Sozialträger für Rente und Sozialversicherungen ein. Das ist ein kleiner Vorteil, der jedoch angesichts der folgenden Konsequenzen wie Schnee in der Sonne schmilzt.
Ich selbst würde mich als Unternehmer bezeichnen: ich bin verantwortlich für eine übersichtliche Anzahl von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen, bilde junge Menschen aus und Praktikant:innen in hoher zweistelliger Anzahl sind durch mein Unternehmen gegangen. Darüber sollte sich der Staat freuen und honorieren. Dennoch bin ich damit ein Exot.
Die Realität: dieses Land kennt nur Angestellte, die alle Rechte genießen, inklusive der Geschäftsführer einer GmbH. Alle Maßnahmen, die der Gesetzgeber in den letzten 20 Jahren zum Arbeitsrecht beschlossen hat, bestand in Absicherungen der Anstellungen.
Als Freiberufler erhalte ich keinen Einkommensverlustausgleich, wenn ich krank bin. Ich darf also nicht krank werden, keinen Unfall haben, eine chronische Krankheit entwickeln. Ansonsten wäre ich auf mich gestellt, inklusiver aller wirtschaftlichen Verluste, die durch das Ausbleiben meiner Arbeit und meines Einkommens voraussehbar sind. Wenn meine Kinder krank werden, gilt dasselbe, auch hier keine soziale Absicherung. Sogar die Zahlungen für eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder eine private Rentenversicherung werden nur zum Teil als Ausgabe geltend gemacht.
Zwischenfazit: nicht krank werden. Niemals!
Innerhalb der Familie bin ich weit und breit der einzige Selbstständige. Alle anderen, die dies versucht haben, sind schnell wieder unter den Schutzmantel der Anstellung geschlüpft. Somit entfällt der fachliche Austausch. Niemand kann die eigene berufliche Situation nachvollziehen.
Als alleinerziehender Vater mit zwei Kindern mit Beeinträchtigung steht mir eine Vater-Kind-Kur zu. Diese kann ich selbstverständlich nicht annehmen, denn niemand zahlt in dieser Zeit die Gehälter, das Büro, die Steuern. Eine hohe vierstellige Summe wäre dafür nötig.
Bei geringen Einkünften wäre das Elterngeld ratsam. Auch hier: Fehlanzeige. Denn dazu müsste ich mehrere Jahresabschlüsse vorweisen, die a) weit in der Vergangenheit liegen und b) keine Aussagekraft über meine aktuelle Einkommenssituation darstellen.
Bei der Bank um einen Kredit zu bitten, ist noch absurder, denn hier liegen die Hürden noch höher: mehrere Jahresabschlüsse und ein üppiger Businessplan. Und am besten gibt es bereits Besitz oder wenigstens eine angestellte Lebenspartnerin als Risikoabsicherung. Ein Hinweis auf 20 Jahre Erfolg als Designer? Lachanfall des Bankberaters.
Zwischenfazit: reich einheiraten und keine Kinder kriegen.
Mythos Urlaub und Auto
Der Mythos, dass Selbstständige viel Urlaub hätten, kann ich nicht bestätigen. Tatsächlich habe ich bislang nicht mehr als 80% Urlaubstage eingeplant im Vergleich zu einer Anstellung.
Und gleich ein zweiter Mythos sei ausgeräumt: Auto, Laptop, Büro und Kamera könne ich doch von der Steuer absetzen. Ja, aber die Ausgaben für meine Arbeitsmittel tätige ich selbst, das Geld dafür ist weg. Ob sich dies bezahlt macht, ist mein persönliches Risiko.
Wie dumm von mir, dass ich meine Einkünfte in sozialversicherungspflichtige Gehälter gesteckt - also in kreative Köpfe investiert habe. Parallel dazu fällt die zu erwartende Rente ab 67 mies aus. Arbeiten bis 70+ ist klar vorgezeichnet.
Mit Gruß der Deutschen Rentenversicherung
Und wenn diese Arbeitsverhältnisse freiberuflich geschlossen wurden, was in der Kreativwirtschaft unabdingbar ist, dann kommt die Deutsche Rentenversicherung, stellt Honorare in Frage, versendet an alle Beteiligten Umfragebögen mit über 50 Fangfragen, um letztlich einfach alle Arbeitsverhältnisse - sogar über einen Monat lang - nachträglich als Anstellung bewerten und alle Sozialleistungen nachberechnen, für die eigentlich die freien Mitarbeiter:innen selbst verantwortlich waren. Ach ja: man darf Einspruch erheben und klagen. Das Geld wird erst einmal eingezogen.
Eine neue Vorgabe der EU zum Thema "Plattformarbeit" wird noch für böses Erwachen sorgen. Die Frage bleibt im Raum: will überhaupt jemand, dass neue Arbeit entsteht?
Bildung ohne soziale Verantwortung
Das Thema Bildung liegt mir sehr am Herzen. Daher führe ich Lehraufträge aus, zuletzt an der Technischen Hochschule Brandenburg an der Havel. Jungen Menschen etwas beizubringen und die Grundlagen der Gestaltung zu vermitteln, ist wirklich etwas, was ich seit über 20 Jahren gut kann.
Empfohlen von LinkedIn
Daher unterzeichne ich auch vor jedem neuen Semester eine Erklärung, dass die Hochschule nicht für meine Sozialabgaben verantwortlich ist und ich für diese selbst aufkomme. Wer nun darin einen Widerspruch zum vorherigen Abschnitt erkennt, dem gratuliere ich herzlich.
Zwischenfazit: Alle Lehraufträge kündigen und Anfragen ablehnen.
Neue Berufe für die Bürokratie
Wem das noch nicht reicht, der darf sich einmal eine Datenschutzerklärung gegenüber einem Ministerium anschauen, das 25 Seiten umfasst. Hier wird der Datenschutz lediglich zu einem Design-Projekt über ein Jahr beschrieben.
Zukünftig wird neben dem Datenschutz die Barrierefreiheit zu ähnlichen absurden bürokratischen Auswüchsen führen, spätestens 2025. Die absolut erstrebenswerten Ziele Datenschutz und Barrierefreiheit werden dabei völlig verfehlt. Korrektur ausgeschlossen.
Als Selbstständiger benötigt man nicht nur ein Steuerbüro, einen guten Anwalt und einen Arzt in der Familie, sondern kann auch gleich eine Vollzeitstelle für die Bearbeitung von Anträgen, Erklärungen, Verträgen und Ausschreibungen schaffen.
Zwischenfazit: der Staat mag keine Selbstständigen. Konsequenz: Auswandern.
Alphabetisierung in Designauffassung
Kommen wir von der vielzitierten Bürokratie und dem sehr einseitigen staatlichen Blick auf "Arbeit" zu gesellschaftlichen Fragen. Zur Designauffassung. Ich behaupte: 95% aller Menschen in diesem Land wissen nicht, was Design ist. Und unser Bildungssystem ist schlicht zu blöd, um das zu ändern, inklusive der Hochschulen.
Die jahrelange Akquise in Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen führte zu vielen absurden Gesprächen und konfusen Ergebnissen. Tatsächlich habe ich mich stets bemüht zu vermitteln, das Design kein "bunt anmalen" darstellt, sondern dass wir als Kreativschaffende Probleme analysieren, Methoden bewerten, Prozesse gestalten und das Ergebnis messen. Diese Erfahrung habe ich sowohl im Führungsbereich von Weltkonzernen gemacht, im Management des Mittelstands als auch bei der Wirtschaftsförderung der Provinz.
Design ist das, was im Baumarkt teurer ist als die Basisausstattung. Und damit: überflüssig.
Sogar Begriffe wie "Bauhaus" und "Design made in Germany" werden in der breiten Bevölkerung missverstanden. Design ist das, was im Baumarkt teurer ist als die Basisausstattung. Und damit: überflüssig.
In dieser Logik liegt auch die Tatsache, dass Kreativität viel zu gering entlohnt wird, wenn überhaupt. Die wenigen Berufsverbände bemühen sich rührend um Kenntnisnahme in der Politik. Aussichten: gering. Aber man kann ja klagen.
Tatsächlich komme ich mir vor wie bei einer Alphabetisierungskampagne: Niemand kann lesen und behauptet, dass Rauchzeichen ein innovatives Werkzeug der Kommunikation darstellt.
Design ist eine Mission und es ist nicht klar, ob zu Lebzeiten etwas verbessert werden kann.
Meine eigenen Erfahrungen bestätigen sich in vielen Gesprächen, die ich in meinem Podcast "Designerklärer" u.a. mit selbstständigen Kreativen geführt habe. Design ist eine Mission und es ist nicht klar, ob zu Lebzeiten etwas verbessert werden kann. Auch die Hochschulen dieses Landes sind in der Überzahl noch weit davon entfernt, Kreative auszubilden, die Probleme methodisch lösen und die wir alle dringend brauchen.
Zwischenfazit: die Gesellschaft mag kein Design. Konsequenz: Umschulung zum Handwerk.
Niemals krank werden, auswandern, keine Kinder kriegen, Lehraufträge vermeiden, zum Handwerker umschulen.
Hier die Fazit-Summe: Nicht krank werden, auswandern, reich heiraten, keine Kinder kriegen, Lehraufträge vermeiden, Handwerker werden. Echt jetzt? Wie Sie sich denken können, habe ich andere Entscheidungen getroffen und stehe dazu.
"You'll never walk alone" - das geklaute Mantra der Regierungsführung klingt wie blanker Zynismus.
Dem Staat und der Gesellschaft sollte es mindestens etwas wert sein, dass Wertschöpfung durch Dienstleistungen wie Design tagtäglich passiert, dass junge Menschen ausgebildet werden, dass Arbeitsplätze geschaffen werden und "Design made in Germany" etabliert wird.
Anerkennung durch den Staat
Viel mehr noch sollte es der Staat honorieren, dass Kreative das Risiko der eigenen Selbstständigkeit eingehen, Innovationen entwickeln und zu Wertschöpfung im Wirtschaftsbereich Dienstleistungen beitragen. Und das nicht in Form eines lächerlichen Designpreises, sondern in ernstgemeinten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ohne Wenn und Aber, möglicher finanzieller Förderung und sozialer Absicherung, gern in Abhängigkeit der geschaffenen Arbeitsplätze.
Ein trotziges "Ja" zum Schluss
Werde ich meine Selbstständigkeit fortführen? Ein klares Ja. Trotz aller Widrigkeiten, die man durchaus als absurd und zerstörend bezeichnen kann, suche ich weiterhin nach Projekten, die eine Designlösung erfordern, arbeite mit einem internationalen Team, mit dem es sich lohnt, Ideen zu entwickeln für Themen, die wirklich relevant sind.
UX / UI - Experte | Digital Product Designer | Mentor | Freelancer ... kreativer Problemlöser und strategischer Denker mit einer Vorliebe für komplexe Herausforderungen
7 MonateHallo Christoph, Herzlichen Glückwunsch!! Starker Post! Bei mir fehlt noch ein Jahr, dann habe ich auch das 20 jährige Jubiläum. Wahre Worte und ich kann dir bei vielem nur zustimmen! Es fühlt sich tatsächlich nach System an und es wird alles dafür getan die Freiberuflichkeit in Deutschland unattraktiv zu gestalten. Zahlreiche Headhunter versuchen dir krampfhaft die ANÜ schmackhaft zu machen, mit dem Fokus,Provision zu kassieren. Mich würde mal eine Statistik interessieren wieviele Projekte durch externe Unterstützung erst richtig Fahrt aufgenommen haben. Ich bin auch sehr gespannt was und das neue Plattformgesetz bringt. Sicherlich führt es zu noch mehr Unsicherheit bei den Unternehmen und zu weniger Projekteinsätzen als Freiberufler.
Designer, Innovator and passionate Brand Consultant
7 MonateGratuliere dir!
Wow! Glückwunsch! 👏🏼👏🏼🎉 Und wir kennen uns fast genau so lang… Da hast du allen Grund stolz zu sein und das zu feiern. Auch wenn dein Rückblick eher etwas niederschmetternd ausfällt. Freut mich, dass du es trotzdem positiv nimmst. Ist ja auch voll gut, was du so machst. Weiter so! Immer schön bunt anmalen… 🎨🙌🏼😉
Outsidetheboxthinker für Kreativität und Design, Innovation und Zukunft, Wirtschaft und Wissenschaft
8 MonateHerzlichen Glückwunsch? 🍾 auf die nächsten 20 Jahre. Viel Erfolg 🍀👍