Corona-Demo - In der Höhle des Löwen. Mein Aufruf zu mehr Respekt, Wertschätzung und Dialog.
Auf Einladung der Konstanzer Verantstalter sage ich zu, bei der Corona-Demo zum Thema "Respektvoller Diskurs" zu sprechen. Bedingung für mich ist das Zugeständnis der Verantstalter, den Titel von "Demo" in "Bürgerdialog" zu verändern. Denn: Es geht m.E. nicht ums Demonstrieren. Das ist das falsche Wort. Es geht um den Dialog.
Daneben zeige ich aus soziologischer Sicht auf, wie man eine Krise von „Notlage stoppen“ bis „Erfolgsgeschichte schreiben“ methodisch erfolgreich bewältigen kann.
Auf einer Corona-Demo zu sprechen und dabei nicht den Demonstranten nach dem Munde zu reden, ist ein Wagnis, doch ich bin in Sorge: Weltweit beneidet man uns Deutschen um unseren Corona-Erfolg und unsere Freiheiten. Wir haben eine echte Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Dennoch eskaliert gerade bundesweit der Streit zwischen Wissenschaftlern , Politikern und einfachen Bürgern. Glaubensgräben ziehen sich mittlerweile durch Wissenschaft, Familien und Politiker Lager.
Hier mein Appell in voller Länge:
"Liebe Konstanzer, liebe Bürgerinnen und Bürger,
Mein Name ist Peter Tümmers von Schoenebeck. Ich bin von Beruf Soziologe und Management-Coach. Ich begleite Menschen und Organisationen durch Veränderungsprozessen. Früher war ich Extremsportler im Wildwasser und habe eine Reihe von Expedition weltweit bestritten. Wie man große Herausforderungen im Team bewältigt und daraus gestärkt hervorgeht, ist also mein täglich Brot. Ich bin gewissermaßen Krisenexperte und als solcher schreibe ich soziologische Fachartikel zum Thema Corona-Krise.
Doch auch meine berufliche Neugierde reichte nicht aus, um einmal eine Corona-Demo zu besuchen und mir ein eigenes Bild zu machen. Weil klar war: laut einhelligen Medienberichten treffen sich hier verstörte Extremisten, AfD-Anhänger und verunsicherte Bürger, die - ob sie es wollen oder nicht – diese Radikalen mit ihrer bloßen Präsenz unterstützen. Mit solchen Leuten wollte ich mich nicht gemeinsam auf einen Platz stellen. Also habe ich – trotz beruflicher Neugier – um Corona Demos einen Bogen gemacht.
Hellhörig wurde ich allerdings, als in Ravensburg ein Bekannter von mir sprechen sollte: ein Rechtsanwalt und Prokurist einer dort ortsansässigen Firma. Ulrich ist - er möge es mir verzeihen: Ein braver konservativer Bürger aus der Mitte der Gesellschaft. Das machte mich neugierig und also ging ich gemeinsam mit meiner Schwester zur Bürgerrechts-Demo. Da sie verbeamtete Lehrerin ist, verabschiedete sie sich vorsorglich von Kindern und Mann, weil wir beide nicht sicher waren, ob wir den Tag nicht am Ende verhaftet beschließen würden. Die „Schwäbische Zeitung“ hatte entsprechend gewarnt.
Die Demo verlief dann ganz anders als wir uns das vorgestellt hatten. Es sprachen: ein Anwalt, ein Arzt, eine Psychologin und Psychotherapeutin in eigener Praxis, eine Friseurmeisterin und ein syrischer Neubürger. Geboten wurde in Kurzvorträgen eine Mischung aus fachlicher Kompetenz und Lebenspraxis. Es wurden kluge Fragen gestellt und interessante Antworten angeboten. Von verängstigt keine Spur. Zwischendurch sprach der neue syrische Mitbürger, vor fünf Jahren zu uns gekommen und mittlerweile mit einem Falafelstand als Kleinunternehmer tätig. Ganz sicher sind seine Falafeln besser als sein Deutsch. Er las mühselig vom Blatt ab, man verstand ihn kaum. Doch die Menge lauschte andächtig und respektvoll. Zwischendurch immer wieder unterstützende Rufe. Als er endete: tosender Applaus.
Ich blickte mich irritiert um und suchte die angekündigten AfD-ler und Radikalen. Spätestens jetzt wäre ihr Moment gewesen, ihre abwertenden, menschenverachtenden Parolen zu rufen. Doch was ich erlebte, war eine gutmütige, freundliche Menge von ca. 2000 Bürgern: ältere Männer, Mütter mit Kindern, junge Leute mit Plakaten. Die meisten zwar ohne Mundschutz, aber – angeleitet von den Organisatoren auf der Bühne - den Abstand einhaltend. Telefonate mit Kollegen in Stuttgart ergaben, daß die Coronademo auch dort ähnlich friedlich abgelaufen war. Zwar habe es 3 % Spinner gegeben, die seien aber schnell von den anderen Demonstrierenden zur Ordnung gerufen worden, bevor die Polizei einschreiten mußte. Was meine Kollegen auch berichteten, war ein selektives Verhalten der Medien. Die wenigen Spinner waren demnach ein deutlich gesuchteres Interviewmotiv als die vielen konstruktiven Teilnehmer. Sensationsmeldungen verkaufen sich halt besser, dachte ich mir. Alles nicht neu.
In große Sorge geriet ich aber, als ich Sonntag abends in der ARD die Politikerrunde bei Anne Will hörte zum Thema: Corona-Demos und der besorgte Bürger. Hier wurde ein völlig anderes Bild der Demos gezeichnet.
Hier waren die "richtigen Experten" und Politiker unter sich. Das Urteil klar: Auf Corona-Demos, so habe eine Analyse des Wochenendes ergeben, finden sich in der Mehrheit Radikale und leicht verführbare Menschen. Allenfalls ein paar besorgte Bürger seien dabei, die guten Willens seien, die es aber "noch nicht verstanden hätten". Die Politik in der Selbstkritik: "Wir haben es nicht gut genug erklärt." Mein Gedanke dazu: vielleicht hört ihr ja nicht gut genug zu?
Spontan fühlte ich mich an Paartherapien und das Problem der männlichen Dominanz erinnert: "Ich wäre so ein guter Ehemann, wenn meine Frau mich nur besser verstehen würde."
Bei all der einhelligen Selbstgewissheit in der Runde, fand sich ein einsamer Rufer in der Wüste: Professor Pörxen von der Uni Tübingen. Er warnt die Runde der Selbstgewissen: "Das abwertende Pauschalurteil ist das Garantierezept um einen Diskurs zu ruinieren. Sie drücken einen Teil der besorgten Bürger und Andersdenkenden, und anders denken soll ja erlaubt sein, in eine parallele Wissens- und Informationsgesellschaft. "
Ich teile diese Sorge. Bei allen Erfolgen der ersten Krisen-Etape - wir entzweien uns gerade. Der Dialog nimmt an Schärfe und Abwertung zu.
Meine Befürchtung ist, daß wir mit unseren deutschen Tugenden der Disziplin, unserer exzellenten medizinischen Ausstattung, der gut funktionierenden föderalen Strukturen schon jetzt Corona-Krisen-Bewältigungs-Weltmeister sind, aber uns darüber entzweien; daß jetzt Gräben entstehen, die bleiben; und daß wir für die eigentlichen Krisen, die uns ja erst noch bevorstehen, den langen Atem nicht haben werden.
Meine Sorge und Analyse: wir haben im Dialog miteinander mittlerweile ein Niveau erreicht, mit dem wir vielleicht diese erste Corona-Welle bewältigen werden, aber wohl kaum die fast zwangsläufige Wiederkehr und die vielschichtigen Folgekrisen, die noch auf uns zukommen werden: Welthandelskrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Welthungerkrise, Sozialstaatskrise. Dafür brauchen wir nicht die Kraft des Sprinters, sondern die Energie des Marathonläufers. Wir müssen aus dem aussteigen, was uns Energie raubt, und das sind die Abwertungsschleifen. Doch wie kommen intelligente Menschen überhaupt dazu, sich zusehends pauschal abzuwerten und die Argumente nicht mehr zu Ende zuhören. Wieso werden anständige Bürger bei Corona-Demos als verunsichert, verführbar oder gleich rechtsradikal eingestuft. Warum muß ich mich in meinem Freundeskreis rechtfertigen, weil ich heute hier spreche? Warum bekommen Gesundheitsminister Jens Spahn und Professor Christian Drosten inzwischen Morddrohungen? Warum werden die Ministerpräsidenten von Sachsen und Thüringen, Kretschmer und Ramelow von eigenen ministerialen Kollegen pauschal für ihre neue Corona-Politik als verantwortungslos beschimpft. Sie wollen alternative Wege gehen: von Verboten zu Geboten kommen. Basis ist die breite Akzeptanz der Bürger für die Maßnahmen. Die Idee ist, den Bürgern zuzutrauen, Ausscherende schon selbst zur Ordnung zu rufen. Die Polizei-Überwachung wird das auf Dauer nicht besser hinbekommen. Man kann diesen Ansatz richtig oder falsch finden, zu spät oder verfrüht. Aber grundsätzlich gilt: Von Verboten zu Geboten zu kommen, immer noch streng überwacht, aber den Bürger in seiner Eigenverantwortung stärker einzubinden, was ist in einer Demokratie daran pauschal falsch? Wieviel staatsbürgerliche Reife traut man uns zu? Wer entmündigt wird, wird wütend. Wie sollen wir Bürger Respekt für unsere Politiker haben, gerade in schwierigen Zeiten, wenn diese sich selbst wechselseitig ständig herablassend beleidigen?
Seit drei Monaten stehen wir, nach einer Sonnenscheinepisode von 70 Jahren, jetzt erstmals unter Druck. Wo sind wir in nur 3 Monaten hingekommen mit unserer so geschätzten Demokratie, der freien Rede, der eigenen Meinung?
Aus dieser Sorge spreche ich heute zu Euch. Ich will Euch aus Soziologensicht Denkanstöße geben, Impulse, gedankliche Landkarten, die helfen können, das Vorgehen besser zu durchdringen. Und damit will ich anregen zu einer positiveren Form der Debatte.
Zunächst etwas Knowhow zum Thema Krise. Eine positive Krisenbewältigung kann man in 5 Etappen einteilen:
1. Notlage stoppen (stop the bleeding)
2. Gesamtbild analysieren (total picture)
3. Gemeinschaft aus Gefährten bilden (win companions)
4. Kraft bewahren (stay strong)
5. Erfolgsgeschichte schreiben (create a heros legend)
Im 5 Etapen aus der Krise wachsen. „Per aspera ad astra“, sagt ein römisches Sprichwort. „Durch das Leid ins Licht“. Jede Expedition im Sport zieht los mit dem Ziel, eine solche Erfolgsgeschichte zu schreiben. Im Erfolgsfall wächst eine solche Gruppe zu einem starken Team und über sich hinaus. Gemeinsam überwundene Schwierigkeiten, das Erleben von Selbstwirksamkeit, von Selbstwert und Bindung in einer Gemeinschaft stiften das Gefühl von Lebenstüchtigkeit. Sich als Gruppe zu retten, sich zu befreien aus einer misslichen Lage, als Gefährten, wie bei Herr der Ringe, darin liegt unsere gemeinsame Chance.
Ich will Euch gern durch die 5 Phasen einer erfolgreichen Krise führen und bemühe mich um eine einfache Sprache:
Phase 1 Notlage stoppen
In Krisen stürzt man sich immer zuerst mit aller Kraft auf das dringlichste Problem. Fight – Flight – Freeze sind drei archaische Verhaltensmuster, die das Problem nicht lösen, aber der Herde wertvolle Zeit verschaffen. Der Abstand zu Säbelzahntiger, Höhlenbär oder seit neuestem dem Virus verschafft Atemluft und die Chance auf Überblick und Strategie. Nichts wäre dümmer, als einen Stuhlkreis zu bilden, wenn der Bär auf einen zustürmt. Eine schnelle Reaktion ist gefragt.
Dafür reduziert das Hirn in der Not komplexe Probleme auf entscheidungsfähige Einfachheit. Im ersten Schritt ist das hilfreich, weil dadurch schnell zu vereinbarende Pauschallösungen umgesetzt werden können. Jedoch schleicht sich, bei zunehmender Dauer dadurch ein schwarz-weiß Denken ein, das einer differenzierten Problemlösung im Wege steht. Pauschale Bewertungen werden nach und nach zum dominierenden kollektiven „Mentalprogramm“, immer wieder bestärkt durch die unzweifelhaften Erfolge. Für diese ersten schnellen Erfolge bezahlt man aber einen Preis. Nämlich den, daß die Herde, je länger die pauschalen „entweder-oder-Programme“ laufen, unwillkürlich auch in einen „entweder-oder“ Konflikt hineingerät, der zwangsweise zu Lagerbildung führt. Ein wertschätzendes Aufeinander- Zugehen wird in einer solchen Phase, immer schwieriger.
Die Lager verkrusten. Die Herde beginnt zu streiten. Die wechselseitige Abwertung ist der nächste logische Schritt.
Mittlerweile – Sie haben es gestern in den Zeitungen gelesen, streiten sich schon anständige Wissenschaftler, die Professoren Drosten und Kekulé öffentlich miteinander, werfen sich wechselseitig unwissenschaftliches Arbeiten vor, was bei Forschern die Höchsstrafe ist. Und das via Bildzeitung. Vor drei Monaten wäre das völlig undenkbar gewesen.
Das ist die logische Folge einer lange anhaltenden kollektiven Stressphase.
Der Shut-Down war vom Ergebnis erfolgreich. Seien wir stolz darauf. Sonst würden wir jetzt nicht hier stehen. Die Franzosen – das Volk von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - dürfen das nicht!
Jetzt kommt aber eine neue Phase: die einer echten Strategie bedarf.
Denn vergessen wir nicht: während wir die Notlage angehalten haben und uns mittlerweile herzhaft streiten und uns dabei wechselseitig „Verschwörungsabsichten“ oder „Radikalisierung“ vorwerfen – da ist gerade keine Seite besser - ist das gemeinsame Problem immer noch ungelöst. Stellen wir uns das mal aus der Sicht des Corona-Virus vor:
Während Covid 19 gewissermaßen als mikroskopisches Raubtier mitten unter uns, seiner potentiellen Beute lauert, streiten sich die Beutetiere gerade herzhaft. Hätte Corona ein Emotionalhirn wie ein Raubtier, es wäre wohl gerade ziemlich verwirrt.
Da ein Virus aber keine emotionalen Empfindungen hat, und deshalb auch keine Rücksicht nimmt, brauchen wir zügig eine echte Strategie.
Phase 2: Gesamtbild analysieren 1 - TOTAL PICTURE
In komplexen Systemen, gilt: Konzentriert man sich zulange auf einen Einzelaspekt, gefährdet man das Gesamtsystem. Wo alle Teile miteinander verwoben sind, wie in einer Gemeinschaft oder einem menschlichen Organismus führt die mittelfristige Vernachlässigung eines oder mehrerer Organe irgendwann zur Schädungung oder Zusammenbruch des Gesamtsystems. Einfache Formeln führen nicht aus der Krise, sondern schaffen neue Krisen.
Der verkürzte Slogan des Shut-Down: „Leben oder Wirtschaft“, war in der ersten Phase hilfreich, um die Herde schnell hinter einem Plan zu versammeln, im Grunde ist dies aber eine populistische, letztlich unsinnige Verkürzung. Das fällt spätestens dann auf, wenn die Zahl der Krebs- und anderweitig schwerkranken Verstorbenen die Zahl der geretteten Corona-Opfer übersteigt, weil Krebsbehandlungen und Operationen aller Art zwei Monate ausgesetzt waren und Arztpraxen geschlossen. Irgendwann sterben mehr Menschen wegen der Corona-Schutzmaßnahmen als dadurch gerettet werden. Es gibt also einen Kipp-Punkt, bei dem sich die Bilanz ins Negative dreht.
Der Volksmund sagt: Man tut des Guten zuviel“, oder: „man schüttet das Kind mit dem Bade aus“.
Um hingegen angemessen zu agieren, müssen verschiedene Aspekte ausbalanciert werden: Schulsystem, Geselligkeit, mentale Stabilität, Erhalt starker Immunsysteme, Streßlevel und Diskussionsqualität, Mütter und Väter in Vielfachbelastungen. Und das geht nur im kritischen, konfrontativen und zugleich wertschätzenden Diskurs.
Ein Appell an alle, die hier sind und nicht hier sind: Hören wir uns Argumente zu Ende an. Gehen wir im Zweifel vom positiven Fall aus, daß auch der andere es gut meinen möge.
Wer anderen pauschal böse Absichten unterstellt, wer den Andersdenkenden ohne ernsthafte Prüfung als Gefährder verunglimpft, der schwächt Demokratie.
Stellen wir das Bewerten und das Abwerten ein Stück zurück. Bleiben wir einen Moment länger in einer neugierig-wertschätzenden Haltung und sehen wir die Chance im anderen Argument.
Karl Valentin, der Münchner Humorist sagt: „Wo alle das gleiche Denken, wird in Summe nicht viel gedacht.
Phase 3: Starke Gemeinschaft aus Gefährten bilden (win companions)
Um eine Gemeinschaft durch eine Krise zu führen, stehen grundsätzlich Konzepte zur Wahl.
Führung über Anweisung oder Führung über Mitgestaltung.
Geführte bekommen Anweisungen, Gefährten gestalten mit. Wer als Politiker, oder Führungskraft über Anweisung, Kontrolle, Bestrafung stabil führen will, muß entweder über ein wirklich gutes Konzept verfügen, das allseits anerkannt ist, oder über unangreifbare staatliche Autorität verfügen. Wenn ich ein gutes Konzept mangels klarer Daten nicht habe und im Grunde nie haben werde, und das zweite, dankenswerterweise nicht, weil wir in einer Demokratie leben, dann sind Führungskräfte und Politier gut beraten, statt mit Anweisung und Kontrolle mit Mitgestaltung der Bürger und der Regionen zu arbeiten.
Das heißt nicht, daß es nicht verbindliche Rahmenbedingungen gibt, aber das sind eher Prinzipien als Regeln. Im Detail und im konkreten Umsetzen bekommen Teilstrukturen eigene Gestaltung zugebilligt. Dafür halten sie sich an die Rahmensetzungen. Kein Freiraum, sondern Spielraum. So entsteht Schwarmintelligenz, Mitverantwortung und am Ende ein robustes, belastbares Gemeinwesen mit mündigen, kritischen, respektvollen Bürgern.
Doch wer sind die Gefährten:
Zu Beginn haben Regierung und RKI haben eine Interessen-Allianz, quasi eine Schicksalsgemeinschaft, gebildet: Die Politik brauchte Sicherheit, das RKI lieferte sie und bekam dafür Gehör. Versetzen Sie sich mal in die Lage der Politik: sie sollen in einer unübersichtlichen Lage Entscheidungen von großer Tragweite fällen. Würden Sie nicht auch gerne angebotene Zahlen nehmen, auch wenn schnell klar wurde, daß diese Zahlen von R-Faktor und Infiziertenrate weder wissenschaftlich erhoben noch relevant waren. Politiker sind auch nur Menschen! Im Krisenmanagement gibt es nicht den perfekten Weg. Richtig ist aber auch: Die Zahlen sind bis heute unklar und unhaltbar. Und das dürfen und müssen wir Bürger laut aussprechen dürfen. Was es nun braucht, ist ein dritter Partner im Bunde: die Bürger. Bei einer offeneren Debatte können wir dabei die modernen Medien nutzen, statt uns über sie zu streiten. Eine Riesenchance!
„Muss sich jetzt jeder “Feld-Wald-und-Wiesen-Arzt“ auch noch zu Wort melden? Wir haben doch die richtigen Virologen und Experten“, sagte jemand dazu kritisch. Meine Antwort: Vielleicht versteht ja ein solcher Arzt mehr von „Feld-Wald-und-Wiese“, mithin von der medizinischen Praxis als ein hochverdienter Virologe, der sein Berufsleben seit 30 Jahren mit Reagenzgläsern verbringt. Vielleicht brauchen wir ja beide Kompetenzen.
Der Föderalismus hilft uns dabei: Die Belastungssituationen sind in Deutschland regional und lokal so unterschiedlich, daß Zentralismus nicht hilfreich ist: Am Beispiel Zentralstaat Frankreich sieht man, was geschieht, wenn der Staat vom dichtbesiedelten Paris bis zur Hochebene des dünnbesiedelten Massive Central die gleichen Verhaltensregeln polizeilich durchsetzen will. Die Bürger erkennen die mangelnde Sinnhaftigkeit und machen irgendwann nicht mehr mit.
4. Kraft bewahren (stay strong)
Wir erleben das Ende der menschlichen Dominanz-Illusion. Der biblische Appell und Aufruf „Macht Euch die Erde untertan“ führt uns Menschen gerade an unseren angemessenen Platz in der Evolution zurück. Wir sind Teil eines Spieles, nicht der Zaubermeister.
Eine Welt nach Corona wird es nicht geben. In Krisen gilt: setze dich mit der Realität auseinander, nicht mit Fiktionen und Wunschdenken.
Auch der größte globale Impfstoff-Befürworter, Bill Gates, geht davon aus, daß ein Impfstoff mindestens noch 1,5 Jahre Entwicklung braucht.
Der schwedische Weg der Herdenimmunität bringt in diesem Sinne auch keine endgültige Lösung. Zwar sind die Schweden auf dem Weg zur Herdenimmunität viel weiter als wir, was die im Vergleich zu uns höhere Totenzahl erklärt. Sie messen seit März den Immunisiertengrad der Bevölkerung empirisch repräsentativ, nicht wissenschaftlich. Daher tauchen diese Statistiken bei RKI oder John Hopkins Univerität nicht auf, weshalb deutsche Medien bis heute Äpfeln bin Birnen vergleichen und Schweden falsch bewerten.
Doch was nützt den Schweden das am Ende. Bei einem mutierenden Virus fangen sie auch jede Virussaison wieder ein Stück von vorne an.
Fazit: Wir brauchen differenzierte Strategien für einen langen Weg. Einen intensiven Austausch und Wettbewerb von Ideen.
Verantwortung vor Ort hilft: Patriarchalische Politiker beklagen mangelnde Einheitlichkeit als Führungsschwäche. Doch was hat eine ostfriesische Dorfkneipe mit einem Szenelokal in Berlin Mitte gemeinsam. Nicht viel.
Der Ideenwettbewerb wird uns über die lange Dauer der kommenden Krisen kreativ und flexibel halten.
Dabei gilt für den Dialog: neugierig bleiben.
Goethe sagt: „Es hört doch jeder nur was er versteht.“ Wir müssen lernen, uns wechselseitig besser zu verstehen.
Es bedarf einer Strategie im Umgang mit dem Virus in Relation zu allen anderen Bedrohungen des täglichen Lebens. Wir bekommen es nicht weg. Wir müssen Abwägung lernen. Goethe sagt auch: „mit dem Wissen wächst der Zweifel.“ Spätestens, wenn im Herbst die zweite Corona-Welle kommt, gilt es, Phasen des Zweifels und der Unsicherheit besser miteinander auszuhalten.
5. Erfolgsgeschichte schreiben - Heldengeschichte;
Bei einem Langstreckenrennen - und das haben wir vor uns - brauchen wir Etappenziele.
Basis davon müssen realistische Einschätzungen sein, keine Zahlenhörigkeit. Kein kollektives Starren auf die Anzeigentafel mit R-Faktor und Infektionszahlen, die das RKI selbst mit einem Ungenauigkeitsfaktor und Dunkelziffer von 1 zu 10 versieht.
Weniger Anzeigetafel, mehr Fokus auf Ziele, die auch qualitativ zu beschreiben sind. Perfektionsstreben und Absolutheitsaussagen sind dabei störend.
Wir brauchen ein Abwägen des Sinnvollen in einem Gesamtsystem mit vielen Komponenten. Keiner kann dabei vollständig gewinnen, keiner darf vollständig verlieren.
Wir dürfen und können uns an Teilerfolgen immer wieder erfreuen und uns gegenseitig wertschätzen. Gerade weil der andere so ganz anders arbeitet und denkt, ergänzt er damit die eigene Perspektive zu einem echten Konzept. Das gilt nicht nur für die Virologen und Professoren Drosten und Streeck, die sich wechselseitig diskreditieren statt sich zu ergänzen. Der eine Laborforscher und Shutdown-Befürworter, der andere Feldforscher und Öffnungsbefürworter. Das Zusammenlegen von unterschiedlichen Kompetenzen ist für die beiden und für uns alle ein Erfolgsrezept.
FAZIT:
Die Abwesenheit von Krisen macht Menschen nicht stärker, die Bewältigung von Krisen macht Menschen stärker. Glück entsteht nicht nur durch Sorglosigkeit. Glück entsteht auch durch gelingendes Miteinander dass man sich gemeinsam erstritten hat. Dafür kann man sich gemeinsam feiern.
Diese Krise ist nicht die letzte. Sie ist nur eine von vielen in einer unablässigen Reihenfolge seit Menschengedenken Durch die Bündelung von Stärken nicht durch Herabwürdigung können wir gemeinsame Erfolgsgeschichten schreiben.
Es ist das Wesen der Demokratie, dass wir miteinander reden über Barrieren hinweg und uns immer wieder gründen in unseren Entscheidungen. Seien wir respektvoll miteinander und bleiben wir stets neugierig auf das Argument des anderen.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören!"