Der Weg von #ICF und #ICD als Basis für eine integrierte #Gesundheitsversorgung: Barrieren und Begründungen

Einer meiner Haupthypothesen ist, dass eine Barriere für eine integrierte und bedarfsgerechte/angemessene #Gesundheitsversorgung unser ICD-geprägtes Gesundheitssystem ist, das sich geschichtlich betrachtet aus dem ärztlichen Blick (Foucault 2016) entwickelt hat und immer noch unser Denken über #Gesundheit und #Krankheit und wie unser Gesundheitssystem zu gestalten und zu finanzieren ist, beeinflusst.

Die wissenschaftliche Entwicklung der Medizin hat sich u.a. durch die Inanspruchnahme naturwissenschaftlicher Denkweisen und Methoden sowie Erkenntnissen ergeben. Die Naturwissenschaft hat der Medizin im 19. Jahrhundert geholfen, ihr Erfahrungswissen zu verwissenschaftlichen, sichtbar und vergleichbar zu machen. Vor diesem Hintergrund hat sich unser Denken von Krankheit als „Ursprungs- und Verteilungsraum im menschlichen Körper entwickelt“ (Foucault 2016:19), eben Krankheit nach der Ordnung der Anatomie die Krankheit zu verräumlichen bzw. zu strukturieren. Auch das #Krankenhaus hat sich im 18./19. Jahrhundert unter anderem parallel dazu mit dem Ziel ausgebildet, Krankheiten dem ärztlichen Blick folgend zu entdecken und zu behandeln. Damit haben sich die Strukturen, der Aufbau und die Finanzierung der Krankenhäuser sich ebenfalls danach organisiert und prägen im Grunde bis heute unser Denken über Krankheit und Gesundheit. Das beste Beispiel ist die Einführung der #DRGs, die überwiegend den medizinischen Diagnosen und Prozeduren folgen. Dabei war immer schon das Wissen vorhanden, dass die medizinischen Diagnosen und Prozeduren nur einen Teil der Versorgung im #Krankenhaus darstellen. Die pflegerischen, gesundheitstherapeutischen und weiteren Bedarfe in der #Versorgung bewusst nicht mitzudenken, da offensichtlich angenommen wurde, dass mit einer medizinischen Diagnose und Intervention alle anderen Maßnahmen weiterer beteiligter Berufe abgedeckt sind (DRG), hat zu einer Unterversorgung und ggf. Fehlversorgung im Krankenhaus geführt. Die Konsequenzen erleben wir seit einigen Jahren, da aus der Perspektive der Krankenhäuser seit Einführung der #DRGs die ärztliche Versorgung Einnahmen bringt, während die pflegerischen, gesundheitstherapeutischen und weiteren Berufe offenbar nur Kosten verursachen. Dieser medizinische Blick scheint demzufolge bis heute prägend zu sein und führt zu #Unter- und Fehlversorgungen von Patientinnen und Patienten. Pflege- und andere Berufsgruppen nur als Kostenfaktoren und nicht als bedeutsam für eine bedarfsgerechte Versorgung zu betrachten, deren Leistungen auch finanziert werden müssen, da sie eine relevante Ergänzung des medizinischen Blicks darstellen, ist aus dem Grunde sehr kurzsichtig, da ein Krankenhausaufenthalt eben nur wegen der weiteren Bedarfe erforderlich ist. Ohne diese weiteren Bedarfe können und sollten die medizinischen Prozeduren ambulant stattfinden und benötigen keinen weiteren Krankenhausaufenthalt. Mit andern Worten: die Leistungen der Pflege-, Gesundheitsberufe sorgen ebenso für Einnahmen der Kliniken, da ohne diese Berufe auch die ärztlichen Leistungen und Prozeduren nicht stattfinden können.

Das heißt: Der ärztliche Blick (Foucault 2016) hat über die Art und Weise über #Gesundheit und -#Krankheit zu denken, zu handeln und zu forschen, entschieden und unser Gesundheitswesen in der Entwicklung sowie Organisation der Sozialgesetzbücher, Finanzierung und Erbringung der Leistungen beeinflusst. Foucault (2016) folgend, hat sich das Recht entwickelt, diesen ärztlichen Denk- und Erkenntnisweisen zu folgen. Trotz vieler Reformen und Erkenntnissen aus den Disziplinen der Gesundheitswissenschaften hat sich dieser gewissermaßen immer noch perpetuiert. Alles Handeln im Gesundheitssystem, in der Versorgung in Gesundheit und Krankheit geht von Ärzten*inne aus

Aber dieser ärztliche Blick in der konservativen Form und noch in der historischen Entwicklung verhaftet, reicht nicht in Behandlung und bedarfsgerechter/angemessener #Gesundheitsversorgung aus, da sich die Phänomene von #Gesundheit und #Krankheit und die aus Krankheit resultierenden Bedarfen sich nicht allein ärztlich bzw. medizinisch klären lassen. Im Vordergrund steht eben nicht mehr die Behandlung einer #Krankheitsdiagnose, sondern eine bedarfsgerechte/angemessene Versorgung. Dafür benötigen wir ebenso den pflegerischen, physiotherapeutischen, ergotherapeutischen etc. Blick. Aus einer ärztlichen Diagnose lassen sich nicht zwingend und begründungsfrei Bedarfe in der weiteren Versorgung ableiten. Die Ursache für eine Erkrankung oder eine Diagnose zu kennen, reicht eben allein nicht aus, um Patienten*innen angemessen zu versorgen. Die Bedarfe ergeben sich bspw. durch Funktionseinschränkungen, Einschränkungen der Selbstpflegefähigkeit, der Partizipation, Teilhabe, Selbstbestimmung, Erlernen/Wiedererlernen von Fähigkeiten, Kompetenzerwerb in Lebensgestaltung mit Einschränkungen aufgrund von Erkrankungen und ähnliches mehr. Es bedarf demgemäß eines klinischen Blickes aus der Perspektive diverser und relevanter Berufsgruppen, die an bedarfsgerechter Versorgung beteiligt sind.

Für eine interprofessionelle sowie bedarfsgerechte/angemessene #Gesundheitsversorgung benötigen wir einen #Paradigmenwechsel, den wir weder in den Gesetzen noch in den Strukturen der #Gesundheitssysteme oder in Gestaltung der Finanzierung der Leistungen nachvollzogen haben. Wir brauchen einen Wechsel vom #ICD-System hin zu #ICF, der immer noch den ärztlichen Blick zulässt, aber auch den klinischen Blick anderer Berufe und den der Patienten*innen/Klienten*innen integriert. Der ICF ist im Ansatz umfassender, da er das medizinische wie auch das bio-psychosoziale Modell integriert und Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, persönliche Faktoren) einbezieht. Mit #ICF lassen sich Krankheitsdiagnosen wie auch Schädigungen in der Struktur der Organe etc., aber auch Bedarfe eruieren, die für eine umfassende Versorgung erforderlich sind. Damit wäre es auch möglich, notwendige Leistungen anderer Berufe im Gesundheitswesen darstellen, um eine bedarfsangemessene Versorgung zu erzielen.

Ideen aus u. mit: Michel Foucault. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. 10. Aufl. 2016. Fischer Verlag

Ute Heinrich

Geschäftsführer bei Tertianum | Healthcare-Expertin

4 Jahre

Sehr anregender Beitrag!

Hans-Ludwig Kowalski

professional Business Coach DBVC, think outside the box

4 Jahre

Ein sehr interessanter Ansatz, der die Struktur des Gesundheitssystem vom ärztlichen Blick heraus nachvollziehbar erklärt. Wer die dominierende Blickrichtung besitzt, hat die Deutungsmacht. Widerstandslos wird sie nicht hergegeben werden.

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