Europas Unabhängigkeitserklärung

Liebe Leserinnen und Leser,

 “Wie wäre es mit einer europäischen Unabhängigkeitserklärung gegenüber den fossilen Großmächten?” fragt der Soziologe Mathias Greffrath in seinem Essay. Und ich gebe die Frage an Sie weiter. Wie wäre es mit einer Erklärung, die Europa aus den fossilen Fesseln befreit, der Welt das zurückgibt, was angesichts der verursachten Klimakrise notwendig wäre? "Politischer Firlefanz, moralischer Müll, marktfeindlich weil technologieabweisend" könnten einige Antworten sein. Doch was nach Luftschloss klingt, ist eine naturgesetzliche Notwendigkeit angesichts der katastrophalen fossilen Auswirkungen. Europa muss dafür bereit sein und sich neu erfinden. Ein europäisches Plädoyer für 2023.

Wo ist Europas Zeitenwende?

2017 sagte Angela Merkel: “Wir Europäer:innen müssen unser Schicksal jetzt in die eigene Hand nehmen.” Der ehemalige US-Präsident Donald Trump zerlegte in dieser Zeit den amerikanischen Schutzschirm über Europa in wenigen Monaten. Militärisch, politisch und wirtschaftlich sind die USA seitdem nicht mehr zuverlässig an Europas Seite, die Briten sagten kurz vorher "Ciao!". Zuletzt konnten wir diesen America First-Moment am US-amerikanischen Inflation Reduction Act sehen, der aus den Regeln der Weltwirtschaft kurzerhand Feuerholz machte. Protektionistische Wirtschaftspolitik zieht in Zeiten, in denen eine fossile Energieinflation die Sparbücher der Bürger:innen, sollten sie denn überhaupt welche haben, auffrisst oder an den Zapfsäulen der detuschen Republik wütende Saarlandspolitiker stehen und Stimmen erhaschen wollen.

Haben wir also unser Schicksal in die eigene Hand genommen und eine Zeitenwende eingeläutet? Jaein. Seit dem gescheiterten Versuch, der Europäischen Union Anfang der 2000er Jahre eine einheitliche Verfassung zu geben, krebst die Union vor sich hin, blockiert durch eine Finanz- und Eurokrise, Migrations- und Nationalismuskrise und eigentlich schon seit Jahrzehnten, jetzt aber akut: Durch eine Klima- und Biodiversitätskrise, die die bisherigen Krisen weit in den Schatten stellt. Die Unionsstärke Europas lag zu Beginn seiner Zeit in der Weitsicht, jetzt liegt sie in der Reaktion auf Krisen. Auch Merkels Worte haben das bislang nicht geändert.

Während die Jacques Chiracs Europas noch von Schnellzügen zwischen Paris und Warschau träumten, träumen die Scholz's dieser Zeit von einer minimalen Veränderung im Einstimmigkeitsprinzip des EU-Rates, welches außer einigen Europas Nerds sowieso kaum jemand versteht. Bloß nicht Diktator Viktor Orbán auf die Füße treten. Angst lähmt uns. Das führt zwangsläufig, wenn überhaupt, zu Minimalveränderungen, die keinen Raum für die große Vision Europas lassen. Der Krieg in der Ukraine hat daran wenig geändert. Weder bauen wir an einem neuen europäischen Vertrag, noch eine Europäische Armee oder ein einheitliches Steuer- und Sozialsystem. Wo ist also die Zeitenwende, die in diesen Tagen so oft zitiert wird?

Die naturgetriebene Zeitenwende

“Halt stop!” rufen jetzt einige. Liefert die EU nicht Panzer, Munition, Strom und Essen an die Ukraine? Haben wir nicht einen Corona-Wiederaufbaufonds für Europas Wirtschaft aufgelegt? Haben wir nicht vor Kurzem das größte Klimapaket der Welt verhandelt – samt neuen Klimazielen? Ja, das haben wir. Daher das Jaein zur Schicksalsfrage. All diese Entscheidungen dafür wurden in den letzten drei Jahren getroffen und sie werden die EU voranbringen beziehungsweise haben es schon gemacht. Für europäische Verhältnisse ist das atemberaubend schnell abgelaufen, aber das alles reicht nicht.

Weder gehen wir dadurch sicher, dass Putins Streitmacht geschlagen wird, noch ob die europäische Wirtschaft den fossilen Energieschock (um den es eigentlich geht) verkraftet, noch ob das Pariser Klimaabkommen eingehalten wird. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens, immerhin. Was aber bieten wir nach dem Sieg der Ukrainer dem Land an? Eine blockierte EU? Dabei ginge es auch ganz anders, oder anders formuliert, es muss anders gehen.

Europas Neuerfindung ist nicht nur eine institutionelle, sondern eine Frage des Schutzes der Freiheit. Eine Freiheit, die angesichts der naturgetriebenen Zeitenwende neu definiert werden muss.

Denn die naturgetriebene Zeitenwende ist nichts anderes als eine Biodiversitäts- und Klimakrise, die den mächtigen Rhein in Deutschland oder die Po in Italien immer regelmäßiger zu Rinnsalen werden lässt, unsere Wälder dezimiert oder die Felder vertrocknen lässt. Sie zeigt uns, um in Greffraths Worten zu bleiben, die Grenzen unseres massiv beschleunigten Verbrauchs von Rohstoffen und damit der Natur der letzten Jahrzehnte auf. Für diesen Kurs erntet die Welt jetzt die Kosten in Form von Artensterben, Hitzewellen, Wetterextremen oder Nahrungsmittelkatastrophen.

Europas Willenskraft ist gefragt

Europas Schuld an der Misere ist zweifellos selbst gemacht. Das erste Kohlekraftwerk der Welt ging in London 1882 ans Netz und markierte den Beginn des fossilen Zeitalters, des beschleunigten Verbrauchs von Natur, der uns nur durch wenige Einbrüche bis heute prägt und die Welt geprägt hat. Er schuf ein Verständnis von Freiheit, das durch höher, schneller, mehr und weiter ohne Grenzen geprägt war.

Die naturgetriebene Zeitenwende macht damit Schluss, erzwingt ein neues Verständnis von Freiheit und damit von Zusammenleben in der Europäischen Union und der Welt. Denn die Welt steht nicht still, die Welt schaut über TikTok und Instagram zu und will auch ein Stück vom Wohlstandskuchen, obwohl der Wohlstand (die Natur) abnimmt und die Überreste in Form von CO2 oder Plastikmüll uns ersaufen lassen.

Europas Antwort auf diese Misere wäre ein neues Wohlstandsversprechen, das bei der Unabhängigkeitserklärung gegenüber den fossilen Fesseln beginnt und eine dezentrale Energieversorgung aus Sonnen- und Windkraft, Speichern und Wärmepumpen mit sich bringt, die als Vorbild für die Welt dienen kann. Dezentral bedeutet selbstermächtigung, denn jedes Dach wird zum Kraftwerk, macht uns resilienter gegenüber Putins Gasfelder. REPowerEU, das Klimapaket Fit for 55 oder Notfallverordnungen zeigen im Ansatz was möglich ist, sind aber Produkte aus der Not heraus geboren. Eine Erklärung wäre weitsichtig und wir könnten sie ergänzen.

Mit einer einheitlichen Steuer- und Finanzpolitik, einer vollen europäischen Demokratie mit zwei transparenten und demokratisch gewählten Kammern statt drei behäbigen Institutionen, die niemand versteht. Das wäre eine echte europäische Zeitenwende, die Strahlkraft bieten kann für eine Welt. Die sich einem illiberalen Staatskapitalismus aus China ebenso wie einem politisch festgefahrenen Amerika entgegenstellen kann und aus der heraus Europa sich selbst, der Ukraine und anderen europäischen Staaten eine neue Vision von Freiheit für die Zeit nach Putins gescheiterten Angriffsgkrieg eben kann. 

“Der theoretische und politische Imperativ von heute besteht somit darin, die Freiheit im Zeitalter der Klimakrise, das heißt im Anthropozän, neu zu erfinden.” schreibt der französische Philosoph Pierre Charbonnier. Erfindergeist? Das können wir doch. Europas Willenskraft ist also gefragt, um das (eigene) Schicksal in die Hand zu nehmen und der Welt einen Ausweg aus den Krisen dieser Zeit, die durch Naturverbrauch geprägt ist, zu bieten.