Fluch & Segen der Flexibilität
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Fluch & Segen der Flexibilität

Einst verlangten die in der Wildnis lauernden Tiere dem Urmenschen hohe Wachsamkeit und Flexibilität ab - ohne diese wurde er nicht alt. Heute sind diese Schlüsseldisziplinen erneut lebenswichtig für unsere Gesellschaft – vor allem aber im Job.

Es schließt sich ein Kreis vom umherziehenden Neandertaler zum sogenannten virtuellen "Homo connectus" - dem vernetzten Menschen. Wir, die sesshaften Sicherheitsdenker, heute mit Reißzähnen und Klauen die "shareholder values" verteidigend, kehren in rasantem Tempo zum unsichereren, aber eben auch viel freieren Nomadentum zurück.

Abschied von alten Vorstellungen

Was ist daran so anders? Nun, die Führungskraft muss vor allem den Kopf frei haben von festgefahrenen, althergebrachten Vorstellungen. Geistige Flexibilität und Bereitschaft zum Wandel sind gefragt. Dazu gehört, sich ständig mit neuen Themen der Transformation und Innovation auseinanderzusetzen, über den Tellerrand hinauszuschauen und ein Leben lang lernbereit zu sein. Das hat sich inzwischen herumgesprochen. Wissen ist zur wichtigsten Ressource geworden, veraltet jedoch auch rascher denn je. Lebenslanges Lernen, nostalgiefreie Abschiede von Bewährtem und der Mut zu blitzschnellen Entscheidungen werden für das Management überlebenswichtig - aber auch für Arbeitnehmer, denn minder qualifizierte Arbeitskräfte werden künftig mehr denn je dem Rotstift zum Opfer fallen. Gleichzeitig entwickeln sich zwar neue Berufsbilder, doch dies sind dann nicht unbedingt feste Arbeitsplätze. Oft ziehen Firmen eher hochqualifizierte Free Lancer projektbezogen je nach Bedarf hinzu oder outsourcen entsprechende Aufgaben. Vernetztes, flexibles Denken und Agieren ist auf allen Ebenen gefragt.

Freilich fangen Flexibilität, Freiheit und Mut im Kopfe an. Remote arbeiten, Dauer-Homeoffice, 4 Tagewoche, flexible Arbeitszeiten – immer wieder heiß diskutierte Themen – sind noch nicht zu Ende gedacht. Langfristige Erfahrung darüber fehlt, wie sich all das auf Produktivität und Wohlstand unserer Gesellschaft nachhaltig auswirken wird.

Wie könnte es da anders sein, dass bei uns Dauerbedenkträgern nicht nur spontaner Enthusiasmus, sondern unverzüglich auch Angst umgeht: Die Angst vor der neuen Freiheit. Der Puls schlägt höher. Wir fragen uns: Wo führt das hin mit der Flexibilität? Flexible Arbeitszeiten? Wechsel der Anwesenheitspflicht? Arbeit zuhause fern der kontrollierenden Argusaugen des Vorgesetzten? Wie soll man da führen? fragt mancher überforderte Chef. Projektmanagement statt Hierarchie und Rangordnung? Wie soll das gehen? Wo bleibt die soziale Bindung unter Kollegen? Streß und Hektik total? Wurzellosigkeit eines atemlos von Auftrag zu Auftrag hetzenden Freiberufler-Heeres? Auflösung des sozialen Netzes?

Bedenken, die ganz gewiss nicht vom Tisch zu wischen sind. Und doch - es sind nie die Maschine oder gar KI selbst, die die positiven und negativen Seiten einer Gesellschaft bestimmen, sondern allein das, was der Mensch daraus macht. Stichwort: Selbstverantwortung! Jeder entscheidet für sich selbst, kann sein Leben selbst in die Hand nehmen, ohne fremdbestimmt zu sein. Er muss allerdings auch bereit sein, den Preis seiner Entscheidung zu zahlen.

Lernen hat eine neue Qualität

Benjamin Britten hat gesagt: "Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück." Nur hat Lernen inzwischen eine andere Qualität erhalten, als wir es aus der "Penne" gewohnt sind. Lernen hat sich inhaltlich verändert: Von der ausschließlichen Fachausbildung zu den sogenannten Lebens- und Berufsfähigkeiten, weichen Faktoren, zum lebenslangen Lernen. Denken, Analysieren, Urteilen, Entscheiden und Anpassen sind Schlüsselqualifikationen der Zukunft. Generalisten mit Sozialkompetenz und Kommunikationstalent haben mehr Marktchancen als fachliche Spezialisten mit Tunnelblick.

Der Erfolg hängt mehr denn je vom schnellen Reagieren in den Märkten, von guten Ideen und der optimalen Nutzung aller (Human) Ressourcen des Unternehmens ab. Was bedeutet das für das Management? Ist alles so turbulent und riskant geworden, dass die Angst vor Unsicherheit und Veränderung in den Führungsetagen zum Fluch wird? Überfordern wir die Führenden damit? Blockiert vielleicht diese Angst ihren Entscheidungsmut, der gerade bei Transformationsprozessen erforderlich ist? Sie werden staunen, hier holt uns der Ruf nach Flexibilität auf teuflische Weise wieder ein:

Zugegeben: In einer Zeit der schnellen Veränderungen ist Flexibilität notwendig. Flexible Arbeitszeiten, flexible Lohnabschlüsse, flexible Organisationsformen etc.. Die Folge: Gesucht sind nur noch Mitarbeiter, die flexibel reagieren auf neue Arbeitsformen, neue Kundenwünsche, neue Standorte, neue Herausforderungen. Gefragt ist der flexible Mensch. Eine neue Kardinaltugend ist geschaffen, ja ein neues Menschenbild! Der flexible Mensch soll vor keiner Anpassung zurückschrecken, er soll sich auf jeden Wechsel einstellen, sogar eine sogenannte Flickenteppichbiografie akzeptieren und er soll mit Unsicherheit leben können, mit Intransparenz, mit Ängsten! Aber….

Die Grenzen des flexiblen Menschen

Halt! Stop! Wir müssen erkennen: Genau hier wird der Bogen der Flexibilität überspannt. Mit Ängsten kann niemand auf Dauer leben. Ängste sind Unsicherheiten, die man nur schwer bewältigen kann, denen man ausgeliefert ist. Deshalb hat man Angst vor dem Verlust eines Arbeitsplatzes, vor Krankheiten, vor Katastrophen, vor Feinden.

Da der Ängstliche seine Unsicherheit mit sich rumschleppt, ist er belastet, blockiert, gelähmt. Wir wissen alle, ein ängstlicher Mensch wagt nichts, er zieht sich zurück, ja er wird sogar krank. Wir müssen erkennen, der Mensch ist nicht beliebig formbar. Seine Flexibilität hält sich in Grenzen. Wer sie überschreitet, begibt sich in Gefahr. Die Folge wird sein: Verlust an Leistungsbereitschaft, Verlust an Bindung. Flexibilität und Bindung passen nicht recht zusammen. Bindung setzt Sicherheit und permanente Kommunikation voraus. Bindung hat sehr viel mit Zuverlässigkeit und Vertrauen zu tun. Vertrauen aber muss wachsen, Zuverlässigkeit muss erfahren werden.

Sie selbst erleben das in Ihrer täglichen Führungsarbeit: Nur bei eingespielten Teams funktioniert dieses gemeinsame Handeln. Überzogenes Fordern von Flexibilität führt zum Verlust an Zugehörigkeit, an Bindung, an gemeinsamem Handeln und Identität. Es wird Ihnen oft schon aufgefallen sein: In erfolgreichen Unternehmen spielt Bindung eine wichtige Rolle. Die Identifikation ist hoch, die Fluktuation gering, die Produktivität spitze.

Halten wir fest: Der Mensch verfügt über ein hohes Maß an Flexibilität, und er braucht sie heute mehr denn je. Das darf aber nicht dazu führen, wieder mal einen neuen Menschentyp zu postulieren, einen Menschen, der mit jeglicher Form von Unsicherheit leben kann. Wir sollten nicht den immer wieder gemachten Fehler wiederholen, ein utopisches Menschenbild zu entwerfen - den flexiblen Menschen - und dann krampfhaft versuchen, den Menschen dieser Utopie anzupassen. Umgekehrt wird eher ein Schuh draus.

Der reale Mensch muss im Mittelpunkt bleiben, der Mensch mit seinen natürlichen Fähigkeiten, seinem Streben nach Anerkennung und Bindung. Empathische, zukunftsorientierte Führungskräfte wissen: Ziele und Systeme, die Naturgesetze missachten, sind schon immer zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Zukunft gehört denen, die Veränderungen als Chancen betrachten und ihren Leuten dabei den Rücken stärken, der Welt von morgen mit Mut entgegenzugehen. Wollen wir vorsichtigen, an Bewährtem hängenden Deutschen dieser Entwicklung mithalten, kommen wir nicht umhin, gründlich umzudenken. Die Kunst dabei ist, die Balance zwischen erforderlichem Tempo und den Grenzen des Menschen zu bewahren. Es gilt aber auch, die eigene Identität und den eigenen Kurs nicht aufzugeben. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe von Führung.

 

Autor

Albrecht von Bonin

VON BONIN + PARTNER Personalberatung

www.von-bonin.de

avb Management Consulting

www.avb-consulting.de

 

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