Gesundheit: Einstieg der Tech-Riesen setzt Branche unter Innovationsdruck
Liebe Leserinnen und Leser,
wer krank ist, der geht zum Medizinmann, Schamanen, Wunderheiler oder Arzt. So läuft das seit Anbeginn der Menschheit. Im Zuge der Digitalisierung wurde der Gesellschaft jedoch langsam klar, dass sie sich mit ihren Arztbesuchen nicht nur Chancen auf Heilung, sondern auch Risiken der Unterversorgung einhandelt.
Warum? Weil jeder physische Arztbesuch einen statistischen Bias – also eine verdeckte Voreingenommenheit – zum Ausdruck bringt. Man kann nur aufsuchen, wer in unmittelbarer geografischer Nähe praktiziert. Damit handelt man sich das erste Risiko ein: Man konnte und kann Glück haben, in der Nähe einer Kapazität wie Robert Koch (Foto) zu wohnen und Zugang zur Charité zu genießen, oder eben Pech, wenn die Dorfstraße hinunter nur der minderqualifizierte Quacksalber sein Unwesen treibt.
Der nächste Bias entsteht durch Bildung und Fortbildung des behandelnden Arztes. Man liefert sich seinem Lektürestand und seinem Fachwissen auf Gedeih und Verderb aus. Liest die nette Internistin um die Ecke wirklich regelmäßig die neuesten Ausgaben der einschlägigen Journale? Kommt sie eventuell gar nicht zum Lesen, weil ihre Praxis so gut läuft, dass sie nach der Arbeit kaum mehr die Kraft aufbringt, sich im Selbststudium fortzubilden? Oder ruht sich da jemand vielleicht sogar auf dem einmal bestandenen Staatsexamen aus? Anders als Piloten müssen Ärzte ihre Lizenz nicht ständig erneuern – warum eigentlich nicht?
All dies bietet der Digitalisierung reiche Beute. Sie kann diese und viele andere Systemschwächen abmildern und beheben helfen. Einige Beispiele:
Die Liste ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Unüberschaubar vielfältig sind die Nutzen, die Digitalisierung stiften kann. Doch trotzdem muss die Branche mit dem Makel leben, zu den am wenigsten digitalisierten Sektoren der Volkswirtschaft zu gehören.
„Der Gesundheitssektor hat sich lange Zeit gelassen und hat sich ganz hinten angestellt in der Schlange der Digitalisierung. Fast jede andere Industrie ist da schon weiter.“
Das sagt Nikolay Kolev, Managing Director der Doctolib GmbH, einer Gesundheitsplattform, die europaweit von 70 Millionen Patientinnen und Patienten und 300.000 Ärztinnen und Ärzten genutzt wird. Kolev ist diese Woche in unserem Tech Briefing Podcast zu Gast. Mit klaren Worten beklagt er die mangelnde Digitalisierung im Gesundheitswesen und beschreibt, welcher Schaden dadurch entsteht.
Amerikanische Tech-Giganten wittern da ihre Chancen. Sie sind besonders dann gut, wenn es um Massenmärkte geht und die bisherigen Marktspieler nicht aus dem Startblock kommen. Dann räumen sie mit geübter Hand das Feld ab. Genau das blüht jetzt dem Gesundheitswesen. Apple, Google und Amazon drängen auf den Markt. Erst diese Woche machte Amazon mit einem spektakulären Zukauf Schlagzeilen. Amazon übernimmt One Medical, eine Gesundheitsplattform, die eine Kombination aus persönlicher, digitaler und virtueller Gesundheits-Betreuung anbietet. 3,9 Milliarden US-Dollar zahlt Amazons CEO Andy Sassy für diese Plattform.
Doch selbst die BigTechs, die vom Bücherhandel über die Musik- und Filmindustrie alles digitalisiert und abgeräumt haben, was es zu erobern gab, kämpfen mit der Technologieskepsis von Patienten. Was die Leute bedenkenlos ihrem Smartphone anvertrauen, das soll eine Gesundheitsplattform oft nicht in die Hände bekommen. Nikolay Kolev berichtet:
„Heute noch findet 95 Prozent der Kommunikation zwischen Praxen, Krankenhäusern und Patienten in Papierform statt. Das sind 144 Millionen gedruckte Arztbriefe jedes Jahr.“
Und mit Ironie und Schmerzgedächtnis fügt Kolev hinzu:
„Das Prinzip Brieftaube ist überall sonst abgeschafft. Nur hier geht alles tatsächlich noch per Post oder per Fax.“
Warum ist das System so träge? Wichtig ist es, bestimmte Fallgruppen digitaler Gesundheitsgruppen zu bilden. Zum einen gibt es da die Fitness- und Lifestyle-Apps und Geräte wie Watches. Ihnen geben die Leute bereitwillig Daten weiter, denn sie erhalten im Gegenzug eindeutigen Mehrwert, nämlich Bequemlichkeit und Sicherheit.
Als Faustregel darf gelten: Gesundheitsdaten werden gern geteilt. Ganz anders aber sieht es bei Krankheitsdaten aus.
Was sind Krankheitsdaten? Das sind alle erdenklichen Informationen über ein Gebrechen, beispielsweise über Infektionskrankheiten, chronische Leiden oder mentale Einschränkungen. Hier fürchten sich viele Menschen vor Datenlecks.
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Zwar können BigTechs wie Apple, Google und Amazon Daten zwar sehr effektiv gegen Hackerangriffe schützen. Doch wer schützt die Daten vor der Verwendung durch die BigTechs selbst? Sie mögen zwar die Hacker draußen halten, doch sie selbst könnten mitlesen, ohne dass es jemand merkt. Und nicht nur das. Auch der Staat nimmt die Einladung zur Lektüre allzu gerne an. Daten, die in den USA gespeichert sind, unterliegen einem ganz anderen Regime als in Europa. Nikolay Kolev sagt:
„Es ist eine absolute Chance für uns, als europäische Plattform, unsere Werte und die europäische Art mit Daten umzugehen, zu demonstrieren.“
Während die Datenschutzgrundverordnung DSGVO in der EU sehr strengen Datenschutz vorsieht, sind entsprechende Vorkehrungen in den USA eher lax. Außerdem gibt es noch den Digital Cloud Act. Der Cloud Act ist ein 2018 erlassenes US-amerikanisches Gesetz, das US-Behörden wie CIA, FBI oder NSA den Zugriff auf in den USA gespeicherte Daten in der Cloud erlaubt. Und nicht nur das: Der Act gestattet auch den Zugriff auf Daten, die von amerikanischen Firmen im Ausland gespeichert sind, also beispielsweise auf Facebook-Servern in Irland.
„Wir müssen mehr Transparenz schaffen und erklären, dass es anonyme Daten sind, die beispielsweise in Frankfurt gespeichert werden.“
Jenseits der Ängste um Datenschutz gibt es Anwendungen, die massiven Nutzen haben. Daten können anonymisiert als Erkenntnisquelle, beispielsweise für Universitäten und Kliniken, genutzt werden. Das hilft der Forschung, Algorithmen zu entwickeln, Künstliche Intelligenz produktiv einzusetzen, Medikamente zu entwickeln, Epidemien vorauszusagen und so mehr Menschen zu heilen.
Das könnte zu echten Effizienzsteigerungen führen. Doch wenn nur fünf Prozent der Krankenversicherten eine elektronische Patientenakte nutzen – so wie es jetzt gerade der Fall ist –, dann hält sich der Mehrwert in Grenzen.
Der Prozess muss eben auch wirklich effizienter werden und nicht einfach eine Überbürokratisierung in der Cloud statt auf dem Papier darstellen. Wenn der Prozess am Ende vor allem für die Patienten komfortabel ist - bestens! Aber eigentlich sollte durch Digitalisierung das Gesundheitssystem entlastet werden und Ärzte und Ärztinnen einen Vorteil daraus ziehen.
Angesichts dessen, was möglich ist, fällt der beklagenswerte Ist-Zustand immer schwerer ins Gewicht. Deswegen sollte jetzt entschlossen Initiative ergriffen werden. Nikolay Kolev:
„Wir haben so viele Möglichkeiten verpasst, eine europäische Marke aufzusetzen. Und das dürfen wir uns im Gesundheitsmarkt auf keinen Fall nehmen lassen.“
Dies alles und mehr hören Sie heute auch in unserem Tech Briefing Podcast.
Ihnen und Euch weiterhin einen erfolgreichen Tag.
Herzlich
Gunjan Bhardwaj Francisco Fernandez
Jens Haberkorn
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2 JahreDa vieles (eigentlich: alles) im deutschen Gesundheitssystem nunmal gesetzlich geregelt ist, sehe ich hier schwarz für wirkliche Innovation. Eine sinnhafte und zielgerichtete Digitalisierung ist würde nämlich schonungslos die Ineffizienzen unseres Systems aufdecken. Da würden eine Menge Posten nämlich recht schnell überflüssig…
Lasst uns spielen, um zu gewinnen - Speaker, Autor & Experte für Digitale Transformation
2 JahreSpannend. Wird endlich auch Zeit. Auf der diesjährigen hub.Berlin hat die Keynote des Vice Ministerpärsidenten der Ukraine mir wieder vor Augen geführt, wie weit wir in der deutschen #verwaltung anderen Ländern in Sachen #digitalisierung hinterherlaufen.
Unternehmer
2 Jahre„Es ist eine absolute Chance für uns, als europäische Plattform, unsere Werte und die europäische Art mit Daten umzugehen, zu demonstrieren.“ Vielleicht bedarf es aber auch der Erkenntnis, dass ein Gesundheitssystem der EU in 🇩🇪 sehr speziell angelegt ist und sogar eine eigene Sozialgerichtsbarkeit existiert, die weltweit einzigartig dasteht. Das Verständnis dafür scheint aber nur rudimentär vorhanden zu sein.