Ist ein Stratege eine Art Kompass für das Unternehmen?
Miros Atelier auf Mallorca

Ist ein Stratege eine Art Kompass für das Unternehmen?

In einer Zeit vieler Veränderungen wird erfahrungsgemäß viel über Strategien nachgedacht. Zu Recht. Das viele Nachdenken führt allerdings auch zu Versuchen, Sachverhalte zu vereinfachen. Dabei werden Strategien und Strategen in Kategorien eingeteilt, um eine gewisse Übersicht zu ermöglichen. Solche Schubladen werden jedoch der heutigen Strategiearbeit nicht gerecht. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag einige Erkenntnisse und Eindrücke aus einem Jahr Strategiearbeit teilen, die mein Kollege Dr. Lothar Essig und ich zusammen bei msg gesammelt haben.

Der Stratege als Kompass?

Ein guter Freund (der vermutlich nicht weiß, dass ich ihn als Freund sehe) suchte nach einer Metapher für unsere Strategiearbeit. Er meinte, wir wären so etwas wie ein Kompass, der die Richtung für das Unternehmen angibt (oder sogar vorgibt). Da musste ich ihm leider widersprechen, denn meiner Meinung nach hinkt der Vergleich. Denn:

Ein Kompass zeigt an einer festen Stelle (nämlich an der Stelle, wo man sich jetzt gerade befindet) die Ausrichtung des Magnetfelds an. Ich brauche nicht ausführen, dass der Kompass erst an der Stelle sein muss, wo er sich am Magnetfeld ausrichten soll; auch gibt er keine Auskunft über die Stärke des Magnetfelds. Der Kontext und der Zeitpunkt des Handelnden, der sich strategisch ausrichten will, ist nicht automatisch der des Strategen zum Zeitpunkt des strategischen Denkens. Mit einem Kompass allein ist jeder gefangen im Hier & Jetzt. Für die Orientierung beim Wandern oder Seefahren trägt die Metapher, weil das Magnetfeld der Erde konstant ist. Das „Magnetfeld“ der Märkte ist leider hoch dynamisch. Der Kompass gibt nur ein Blitzlicht auf das mich umgebende Netzwerk an Kausalitäten.


Welche Metapher ist besser geeignet?

Lassen wir uns kurz die Metapher wechseln: sprechen wir anstatt von einem Magnetfeld von einem Gravitationsfeld, also von Anziehungskräften. In der Strategiearbeit hat sich gezeigt, dass es zielführender ist, wenn wir genau diese Zusammenhänge transparent machen. So ist es von hohem Interesse zu wissen, wie Kräfte auf unser Unternehmen wirken werden, wenn der gewählte Kurs beibehalten wird. Statt eine Antwort auf eine geschlossene Frage zu geben, wie zum Beispiel „Sollen wir jetzt in Quanten-Computing investieren?“, sollten wir lieber erklären:

- Was sind die Skalierungspunkte neben der Verfügbarkeit von QBits?

- Welche Technologie können als Sprunginnovation genutzt werden?

- Wo zeichnen sich Beschleunigungen am Markt ab?

- An welchem Punkt müssen wir uns wie schnell ändern, um Marktrelevanz zu erlangen?

Die letzte Frage ist für mich die zentralste Frage in der Strategiearbeit, aber dazu ein anderes Mal mehr.

Der Stratege als „Zukunftsentfalter“

In diesem Zusammenhang sehe ich Strategiearbeit nicht als Zukunftsentwicklung, sondern als Entfaltung der zukünftigen Möglichkeiten. Der Begriff der Zukunftsentwicklung suggeriert eine aktive Kraft, die Zukunft zu formen und zu prägen. Ich finde, Strategiearbeit ist eher ein Freilegen, ein Trennen von relevanten und irrelevanten Aspekten zu einem Ziel.

Strategiearbeit und Kunst

Strategiearbeit lässt sich mit Kunst vergleichen. Nehmen wir zum Beispiel die Malerei oder auch die Bildhauerei: Ein Maler beginnt mit einer leeren Leinwand. Er fügt Farbe auf die Leinwand auf und muss darauf achten, nichts Irrelevantes hinzuzufügen. Der Maler stellt sich die Frage, wann das Gemälde fertig ist, denn: nach „fertig“ kommt nicht zwangsläufig „besser“.

Der Bildhauer hat einen Marmorblock, der das Kunstwerk bereits in sich trägt. Es stört nur das Irrelevante. Jetzt gilt es, so viel wegzunehmen, bis das Kunstwerk übrigbleibt. Auch hier die zentrale Frage: Wann ist das Kunstwerk fertig?

Bei der tradierten Strategiearbeit sehe ich Parallelen zur Malerei: Hier gibt es den schöpferischen Akt, indem Dinge zusammengefügt werden, die vorher noch nicht auf der Leinwand waren. Das strategische Ziel ist erschaffen worden. Heutige Strategiearbeit ähnelt hingegen eher dem Bildhauer: So viele attraktive Ziele existieren bereits bzw. so viele Menschen entwerfen verschiedene ideale Zukunftsszenarien. Diese attraktiven Ziele sind aber teilweise verschlossen hinter technologischen Hürden, Marktregulationen oder Wettbewerbspositionen. Wie beim Bildhauer und seinem Marmorblock ist es die Kunst zu wissen, wie sich Veränderungen entweder von außen (= Kunde, Wettbewerb) oder von innen (= Investitionen, Strukturen) auf das Ziel auswirken. Das Zielbild schärft sich mit jeder Änderung. Michelangelo konnte spüren, was in einem Marmorblock steckte, ohne sich sklavisch an eine feste Skizze zu halten.

Zusammengefasst plädiere ich für eine Strategiearbeit, die folgende Eigenschaften hat:

·       Sie bedeutet vielmehr eine relative Aussage als eine absolute Positionierung.

·       Sie befähigt mehr zum Mitdenken, als dass sie eine Richtung vorgibt.

·       Sie faltet Komplexität auseinander, anstatt diese zu verdichten.

·       Sie zeichnet sich mehr durch Kompetenz als durch Potenz aus.

·       Sie regt zum Diskurs über offen gestellte Fragen an.

·       Sie legt strategische Ziele frei und macht sich umsetzbar.

Stephan Merkel

Let‘s make the EUDR work! Founder and CEO Valean Solutions GmbH

1 Jahr

Lieber Stephan, ich verstehe den Grundgedanken und finde viele ansprechende Formulierungen, die Lust auf eine solche Strategie machen. Ich frage mich aber ehrlicherweise, wie sich ein Strategiepapier anhören würde, das deinen Merkmalen entspricht. Ich bin vielleicht naiv, aber ich denke bei Strategie an Sätze wie: wir erwarten Entwicklung X, wir haben Ressource Y, die wir investieren oder umwidmen, oder wir schaffen Struktur Z, um für uns das Beste aus Entwicklung X zu machen. Wo kommt jetzt z. B. die entfaltete versus verdichtete Komplexität ins Spiel?

Schöne Idee, sich der Frage, was #Strategie wirklich soll von der (Spoiler: ungeeigneten) Metapher des Kompass zu nähern. Und inspirierendes Ergebnis. Danke. Marcus Adlwart Florian Theimer Konstantin Gerlach

Gerhard Krennmair

Innovation that accelerates your business…

1 Jahr

Lieber Stephan, danke für diesen Artikel, den ich jetzt im Urlaub an der wunderschönen Küste Kroatiens lese. Ich kann dir in einfachen Worten sagen, was für mich gute Strategiearbeit ist: Komplexe, zukunftsorientierte Themen so in der Organisation aufzubereiten, dass jede Kollegin und jeder Kollege weiß, was ihr/sein Betrag dazu ist. Natürlich steht bei der Auswahl dieser Themen der Nutzen für den Kunden im Vordergrund! „Simplexity“ ist also der Schlüssel zum Erfolg 😉

Zum Anzeigen oder Hinzufügen von Kommentaren einloggen

Weitere Artikel von Dr. Stephan Melzer

Ebenfalls angesehen

Themen ansehen