Mobilität und soziale Gerechtigkeit
Mobilität und soziale Gerechtigkeit - damit beschäftigt sich ein aktuelles Papier des IZT. Luxemburgs Vizepremier Francois Bausch hat darauf 2020 eine Antwort gegeben: Luxemburg bietet den ÖPNV gratis an. Bildmontage: JS

Mobilität und soziale Gerechtigkeit

Im vergangenen Oktober hat die Böckler-Stiftung das Arbeitspapier „Muster sozialer Ungleichheit der Wohnversorgung in deutschen Großstädten“ vorgelegt. Im gleichen Jahr veröffentlichte die OECD eine Studie unter dem Titel „Is the German Middle Class Crumbling? Risks -and Opportunities“, 2018 erschien ein Papier der Bertelsmann-Stiftung unter der Überschrift „Aufwachsen in Armutslagen -Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe“ und 2019 eine Publikation von Brot für die Welt, Misereor und PowerShift mit dem Titel „Weniger Autos, mehr globale Gerechtigkeit“. Die genannten Papiere richten den Fokus, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln, auf die soziale Lage verschiedener Bevölkerungsgruppen und auf die zum Teil massiv veränderten Bedingungen. Dabei arbeiten alle genannten Studien den Zusammenhang von sozialer Lage, Teilhabe und Gerechtigkeit heraus.

Von den gewichtigen Inhalten abgesehen markiert die kurze Abfolge der Veröffentlichungen einen offenkundig wachsenden Missstand in einer – in Summe gesehen – wohlhabenden Gesellschaft. Bemerkenswert daran ist leider auch die Feststellung, dass die Akteure im Bereich Verkehr und Mobilität, ob nun auf bundes-, länder- oder kommunalpolitischer Ebene, ob in den Unternehmen, die Verkehrsdienstleistungen anbieten oder in Forschungsinstituten, die Befunde weitgehend unbeachtet, um nicht zu sagen ignoriert haben.

Spätestens seit der Formierung der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die gegen die Einführung der CO2-Steuer und die Verteuerung der Verkehrsmittel protestiert hat, hätte hierzulande den Akteuren in der Verkehrs- und Mobilitätsbranche klar sein müssen, dass der Zusammenhang von Mobilität und sozialer Lage oder allgemeiner: von Mobilität und Gerechtigkeit evident ist und mancherlei Konfliktpotenzial enthält.

Wenn laut Böckler-Studie mehr als eine Million Haushalte mit mehr als zwei Millionen Menschen in 77 Großstädten Deutschlands mit mehr als 100.000 Einwohner nach Abzug der Miete unter die Armutsgrenze fallen, dann wird keine Lokale Nahverkehrsgesellschaft, kein Verkehrsverbund und auch nicht die Bahn diesen Befund ignorieren können – weil für diese soziale Gruppe Preissteigerungen auch von ein bis zwei Prozent eine Herausforderung sind, die nicht alle werden bewältigen können.

Sabine Flores, Stephan Rammler, Dirk Thomas, Ingo Kollosche, IZT

Das aktuelle Papier des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin reagiert auf diesen Missstand mit einem kompakten und informativen Papier. Die drei wesentlichen Erkenntnisse, die Prof Dr Stephan Rammler, Dr Dirk Thomas, Ingo Kollosche und Sabine Flores präsentieren, lauten:

·       Die Mobilitätswende kann ohne eine starke, intelligente und integrierte politische Regulierung nicht umgesetzt werden. Um die Teilhabe an, aber auch den Zugang zur Mobilität gerecht zu gestalten und um damit den ökologischen und sozialen Zielstellungen gleichermaßen Rechnung zu tragen, muss diese im Sinne der Daseinsvorsorge politisch institutionalisiert werden.

·       Die ungleiche soziale Betroffenheit durch externe Effekte von Verkehrsprozessen hat Auswirkungen auf die Gesundheit und Lebensqualität unterschiedlicher Personengruppen und sozialer Milieus und schließt siedlungsstrukturelle Effekte mit ein. Dabei verstoßen die verkehrsbedingten Emissionen nicht nur gegen das Prinzip der intergenerativen Gerechtigkeit, sie tragen auch zu einer zu einer mangelnden Umweltgerechtigkeit bei. Darüber hinaus führt die Begünstigung des motorisierten Individualverkehrs in der Stadt zu einer ungerechten Verteilung des öffentlichen Raums.

·       Bei der sozialen und ökologischen Ausgestaltung zukunftsfähiger Verkehrssysteme ist die soziale Facette stärker zu berücksichtigen, indem der ungleichen Verteilungswirkung verkehrspolitischer Instrumente und damit den ohnehin bestehenden Ungleichheiten insbesondere einkommensschwacher Haushalte entgegengewirkt wird.


Die Kernaussagen machen deutlich, dass die AutorInnen im Gegensatz zum Gros anderer Studien und Papiere im Mobilitäts- und Verkehrssektor einen systemischen Ansatz pflegen, der im Gegensatz zu analytisch-monothematischen Arbeiten auf die Herausforderungen der Zeit reagiert, indem die Interdependenzen von Systemen und Subsystemen erkannt und auf dieser Basis handlungsanleitend gearbeitet wird.

„Wir sind gewohnt, all das, was wir genauer studieren wollen, als abgeschlossene Einheit zu untersuchen. Das führt dann zu einem mechanistischen Modell, wie es in vielen Fällen, etwa in der Technik, so wunderbar funktioniert. Für die Erfassung eines lebendigen Systems geht das jedoch völlig daneben“, schreibt Frederic Vester in seinem Standardwerk „Neuland des Denkens“, das vor mehr als 40 Jahren erschienen ist. Nach Lage der Dinge ist dieser Hinweis weitgehend verhallt, von Ausnahmen wie dem IZT abgesehen.

Komplexe Verkehrssysteme, die Mobilitätsbedürfnisse befriedigen sollen, sind ein Beispiel für lebendige Systeme. Wie überhaupt das Wechselspiel von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Ökologie und das Erfordernis einer Großen Transformation ohne systemisches Denken nicht gestaltet und schon gar nicht bewältigt werden können. Darauf weisen die AutorInnen in der Einleitung hin. Die Transformation werde politisch dort nicht gelingen, „wo ökologisch gut gemeinte umwelt- und klimapolitisch motivierte Regulierung sozial schwächere Gruppen finanziell belastet oder ausgrenzt“.

Frederic Vester, Neuland des Denkens

Bild oben: Die natürlichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen eines Systems werden durch künstliche Einteilung in Fachressorts durchtrennt. Wir erfahren nichts mehr über die Wirklichkeit, nur noch über Teile. Aus: Frederic Vester, Neuland des Denkens.

Vor diesem Hintergrund leiten die AutorInnen drei spezifische Dimensionen sozialer Gerechtigkeit ab, die für moderne Gesellschaften kennzeichnend seien: Teilhabe an und Zugang zu Mobilität, Verteilung externer Effekte der Verkehrssysteme und Verteilungswirkung verkehrspolitischer Instrumente.

Das ist Stoff für Debatten, die überfällig sind, zumal es im Koalitionsvertrag der Ampel heißt: „Wir wollen eine nachhaltige, barrierefreie, innovative und für alle alltagstaugliche und bezahlbare Mobilität ermöglichen. Mobilität ist Teil der Daseinsvorsorge und Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land.“

Im Blick auf den Klimawandel, dessen verheerende Dynamik wächst, kommt hinzu, dass etwa die reichsten zehn Prozent der Menschheit 36 bis 45 Prozent der weltweiten Emissionen verursachen. Das ist zehnmal so viel wie der Beitrag der ärmsten zehn Prozent. Dieses Zehntel ist verantwortlich für drei bis fünf Prozent der Emissionen.

Im Luftverkehr sind die oberen ein Prozent sogar für 50 Prozent der Emissionen im Luftverkehr verantwortlich. Reiche Menschen tragen überproportional viel zur Erderwärmung bei.

Auch das sind Fakten, die eine Debatte über Teilhabe, soziale Gerechtigkeit und Mobilität geradezu erzwingen.

Das IZT-Papier regt dazu an, über die Rolle des Staates und der Länder bzw Kommunen nachzudenken: Die soziale Frage im Mobilitätssektor stellt die Formen der Finanzierung etwa des ÖPNV wie generell marktwirtschaftliche Instrumente der Mobilitäts- und Verkehrssteuerung in Frage (Pkw-Maut etc). Wenn gesellschaftliche Teilhabe ohne Mobilität nicht möglich ist, zugleich aber immer mehr Menschen aus finanzieller Not daran nicht im wünschenswerten Maße teilhaben können, dann müssen wir die Frage beantworten, welche Rolle der Staat beim Thema Daseinsvorsorge hat.

Luxemburgs Vizepremierminister Francois Bausch hat diese Frage für sein Land im Frühjahr 2020 beantwortet. Der Staat bietet den ÖPNV gratis an, nachdem zuvor beschlossen worden war, die Verkehrsinfrastruktur im Land entsprechend auszubauen.

Im vergangenen Herbst hat Bausch bei der Cluster Mobility-Jahreskonferenz „Zukunftsfähige Mobilität in einer lebenswerten Stadtregion“ im House of Logistics and Mobility (HOLM) in Frankfurt am Main Bilanz gezogen und den Schritt überzeugend begründet. 

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