Nach über zehn Jahren eine schwere Entscheidung: Warum ich Amnesty International verlasse

Nach über zehn Jahren eine schwere Entscheidung: Warum ich Amnesty International verlasse

Ich bin in der Frage der Notwendigkeit eines jüdischen Schutzstaates nicht neutral – ich bin von ihr überzeugt. Nicht zuletzt auch aufgrund der historischen Verantwortung von uns Deutschen. Israel gelingt es jedoch unabhängig von dieser seine Rolle als jüdischer Staat mit Weltoffenheit und Rechtstaatlichkeit zu verbinden. Dennoch wirft Amnesty International dem Staat Israel Apartheid vor. Ich will erklären, warum ich diesen Bericht für hoch-problematisch und vor allem für unzutreffend halte und will darlegen, welche Konsequenzen ich aus ihm ziehe.

Das Gegenteil von Apartheid

Die Apartheid war ein in Südafrika vorherrschendes, totalitäres Herrschaftssystem, in dem eine weiße Minderheit die schwarze Bevölkerungsmehrheit unterjochte. Die angeblich höherwertigen Weißen durften mit den »minderwertigen« Schwarzen nicht verkehren, nicht einmal mit ihnen zusammen auf einer Parkbank sitzen. Schwarze waren von Wahlen ausgeschlossen, hatten keinen Zugang zu wirtschaftlichen Besitzgütern und wurden auch von öffentlichen Bildungseinrichtungen weitestgehend ausgeschlossen. Sie durften ihren Wohnsitz nicht frei wählen und das Land nicht verlassen, Ehen zwischen schwarzen und weißen Menschen wurden kriminalisiert. Und auch andere Menschen, die nicht den Vorstellungen, der autoritären Apartheidsregierung entsprechend lebten, wurden diskriminiert.

Nichts dergleichen passiert in Israel. Israel ist die einzige stabile Demokratie in der Regierung, ein verlässlicher Rechtsstaat, getragen von einer engagierten Zivilgesellschaft. Die israelische Verfassung garantiert allen Bürger*innen die gleichen Rechte und verpflichtet das Land zum Kampf gegen Diskriminierung, alle volljährigen Bürger*innen sind – selbstverständlich unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder – und das ist mit Blick auf die Nachbarregionen keineswegs selbstverständlich – ihres Geschlechtes – wahlberechtigt, alle Kinder sind schulpflichtig und jede*r Bürger*in darf sich wirtschaftlich betätigen. Eine gesellschaftliche Trennung ist nicht vorgeschrieben. Dem israelischen Parlament gehören Jüd*innen und Araber*innen, Menschen mit und ohne Behinderung, heterosexuelle und queere Politiker*innen an. Die Pride Parade in Tel Aviv gilt als eine der schönsten weltweit.

Araber*innen haben in Israel selbstverständlich auch das aktive und passive Wahlrecht, sie dürfen politische Parteien bilden, privates Land erwerben und pachten. Sie haben das Recht, ohne Einschränkungen frei zu reisen. Arabisch ist neben Hebräisch eine Amtssprache, und alle Gesetze, Verkehrsschilder und Beschriftungen in öffentlichen Gebäuden gibt es auch auf Arabisch. Und die Sperrknausel zur letzten Parlamentswahl, die anders als in Deutschland bei 3,25% statt bei 5% liegt, betraf über 20 jüdische aber keine einzige arabische Partei. Der israelischen Regierung gehören Jüd*innen und Araber*innen, Menschen mit und ohne Behinderung, heterosexuelle und queere Politiker*innen an. Die Pride Parade in Tel Aviv gilt als eine der schönsten weltweit.

Tragpfeiler von modernen Antisemitismus

Wer also – wie Amnesty International – behauptet, Israel sei ein Apartheidsstaat, verlässt den demokratischen Konsens und Relativiert die Verbrechen, die in Südafrika aus rassistischen Motiven begangen worden sind. Ich halte das für inakzeptabel und unerträglich. Hinzu kommt, dass der Bericht Amnestys voller inhaltlicher Fehler, Ungenauigkeiten und einseitiger Übergriffigkeiten ist. So ignoriert der Bericht gänzlich die Notwendigkeit der israelischen Selbstverteidigung gegen Angriffe von der Hamas. Nur aus diesem Grund wird beispielsweise der Zugang aus dem Gazastreifen nach Israel reglementiert, um zu verhindern, dass auf diesem Weg Waffen oder Bomben für Angriffe und Anschläge nach Israel gebracht werden können, so wie dies in der Vergangenheit immer wieder geschehen ist. Und es ist die Hamas und eben nicht Israel, die regelmäßig mit Raketen, die sie von Krankenhausdächern aus abfeuert, das Feuer aus Israel eröffnet, damit Israel, wenn es die Feuerstellen der Terrororganisation attackieren möchte, auf Krankenhäuser feuern muss. Dieses Vorgehen ist Menschenfeindlich – nicht die israelische Selbstverteidigung.

Doch auch ganz grundsätzlich attackiert Amnesty das Existenzrecht Israels. So wird behauptet, dass Israel seit seiner Gründung an der Implementierung eines Apartheidssystems arbeite, was den grundsätzlichen Staatsgedanken Israels delegitimiert und verkennt, dass es Israels Nachbarstaaten waren, welche auf die Staatsgründung Israels mit Kriegserklärungen reagierten. Hochproblematisch ist auch die von Amnesty erhobene Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ für palästinensische Flüchtlinge. Denn durch die „Vererbbarkeit“ des Flüchtlingsstatus nicht nur die 30.000 noch lebenden Palästinenser, die nach der nach Staatsgründung Israels Palästina verlassen haben oder von dort vertrieben wurden, als Flüchtlinge, sondern auch ihre Nachkommen. 5,7 Millionen Menschen können so auf ein „Rückkehrrecht“ in ein Land beharren, in dem sie nie gelebt haben. Zudem verlangt Amnesty, Israel solle all diejenigen Gesetze aufheben, die die jüdische Identität des Staates schützen, was de Facto die Forderung nach dem Ende Israels und eindeutig geschichtsrevisionistisch ist.

Geschichtsrevisionismus statt entschlossener Haltung

All das allein ist aus meiner Sicht schon eine inakzeptable, von Antisemitismus gekennzeichnete Kampagne gegen den jüdischen Schutzstaat Israel. Doch neben der britischen Sektion Amnestys hat sich heute auch der deutsche Ableger von Amnesty International zu diesem Bericht geäußert. In einer ergänzenden Erklärung schreibt das deutsche Sekretariat: „In Deutschland wurde die systematische Vernichtung jüdischer Menschen geplant und umgesetzt. (…) Im nationalen aktuellen wie historischen Kontext ist eine objektive, sachbezogene Debatte zu der vom Bericht vorgenommenen Einordnung nur schwer möglich.“ Dies suggeriert eine Einschränkung der Meinungs- und Debattenfreiheit, behauptet, es gebe einen Konsens darüber, dass Israel ein Unrechtsstaat sei und vollzieht so eine beispiellose Täter-Opfer-Umkehr. Für mich ist es eine für mich unerträgliche Entscheidung von Amnesty Deutschland, die historische Verantwortung der Deutschen auf diese Weise zu missbrauchen, um sich nicht mit strukturellen Antisemitismus innerhalb der eigenen Organisation beschäftigten zu müssen. Keine Woche, nachdem auf den Accounts von Amnesty auch in Deutschland "nie wieder" und "we remember" gepostet worden ist, werden dort nun unausgewogene, antisemitische Inhalte platziert. Es macht mich fassungslos.

 Amnesty International hat mit seinem Bericht keine Aufklärung betrieben, sondern eine Anleitung für modernen Antisemitismus veröffentlicht. Die Organisation, die ich seit vielen Jahren wegen ihres Engagements für Menschenrechte weltweit als Mitglied unterstützt habe, liefert damit Antisemitismus erheblichen Vorschub. Anstatt die radikalislamistischen Hamas zu kritisieren oder zumindest eine differenzierte Kritik an konkreten politischen Entscheidungen zu üben, delegitimiert und beschimpft eine Menschenrechtsorganisation die einzige Demokratie der Region, das Land, in dem Menschen sich frei entfalten können, egal, woher sie kommen, woran sie glauben, welches Geschlecht oder welche sexuelle Orientierung sie haben. Das ist keine Menschenrechtspolitik, das ist ein Verrat an den satzungsgemäßen Zielen dieser Organisation. Dies und die Haltung der deutschen Sektion Amnestys zu alledem zwingen mich dazu, meine Mitgliedschaft bei Amnesty International mit sofortiger Wirkung zu beenden. Und das obwohl ich mich den Zielen des Vereins untrennbar verbunden fühle. Denn ich bin eben nicht dazu bereit, das "nie wieder" zum bloßen Ritual werden zu lassen, für mich bedeutet es stattdessen täglichen Kampf!

Eine Zukunft für die Menschenrechte

Das möchte ich noch einmal deutlich machen: Ich kritisiere und verlasse Amnesty International nicht, weil ich die Ziele des Vereins nicht teile oder weil ich nicht davon überzeugt bin, dass es eine laute und internationalisitische Stimme für Menschenrechte braucht. Denn ich bin von den Zielen und Mitteln Amnestys ebenso wie von der Notwendigkeit einer internationalistischen Stimme für Menschenrechte überzeugt, so wie Amnesty es sein könnte und sollte. Ich kritisiere Amnesty, weil ich auf Missstände aufmerksam machen will, bevor die Organisation ihre Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft vollends verloren hat und weil es mir unmöglich ist, zu Antisemitismus zu schweigen. Und ich gehe, um ein Zeichen zu setzen und damit hoffentlich Veränderungen mitanzustoßen.

Ich wünsche den Mitgliedern von Amnesty International einen aktiven, kritischen und ernsthaften Reflexionsprozess und hoffe sehr auf diesen. Bis dahin werde ich mir einen anderen Ort suchen, um mich auch zivilgesellschaftlich für Menschenrechte weltweit, für den konkreten Einzelfall und die globale Öffentlichkeit, zu engagieren.

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