Vom Erkennen von komplexen Zusammenhängen (Teil 1)
Auch Regulierungsprojekte müssen komplex arbeiten
Der ZVO widmet sich bereits seit Längerem komplexen Zusammenhängen. Komplexe Systeme bestehen aus einer großen Anzahl an Einflüssen bzw. Komponenten, die miteinander wechselwirken. So entstehen Wirkungsketten, aber auch Regelkreise, die über viele Komponenten laufen können. #Komplexität zu bewältigen, setzt systemisches Denken (oder Systemdenken) voraus.
Im Umgang mit komplexen Systemen sind wir schnell überfordert. Nebenwirkungen, Langzeitwirkungen und Rückkopplungen sind für uns nicht einfach durchschaubar. Im Gegensatz zu linearen, wenn auch möglicherweise sehr komplizierten Systemen, finden wir hier nicht die Formeln durch Datensammlung. Wer die üblichen Lösungstechniken der Spezialwissenschaften anwendet, wird scheitern und Fehler machen. Um diese Fehler geht es hier.
Bereits seit den 80er Jahren werden intensive Studien zu unseren begrenzten kognitiven Zugängen zu komplexen Systemen durchgeführt. Dabei treten immer die gleichen Fehler auf. Je nach Autor gibt es eine unterschiedliche Anzahl entscheidender Fehler; in dieser Abhandlung sollen die folgenden acht betrachtet und an typischen Beispielen erörtert werden:
· Teil 1
o Hypothesenfehler
o Planungsfehler
· Teil 2
o Zielfehler
o Bewertungsfehler
o Korrekturfehler
· Teil 3
o Kommunikationsfehler
o Fehldosierung
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o Timing
Hypothesenfehler
Eine Hypothese sollte eine widerspruchsfreie Aussage oder Annahme zu Gesetzmäßigkeiten oder Tatsachen sein, die noch unbewiesen ist. Sie dient als Ausgangspunkt für wissenschaftliche Erkenntnisse.
Hypothesenfehler entstehen zum Beispiel bei fehlerhaften Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen, deren Gültigkeit explizit oder implizit vorausgesetzt wird. Oft werden hier Erwartungen und persönliche Erfahrungen als allgemeingültige Grundlage angenommen.
So resultieren Hypothesenfehler unter anderem aus linearem Denken. Es wird von eindeutigen Ursache-Wirkungsbeziehungen ausgegangen. Genau hier wird aber die Komplexität, das heißt die vielen Wechselwirkungen und Rückkopplungen, nicht berücksichtigt. Nehmen wir die einfache Aussage: Die Substitution gefährlicher Substanzen führt zum Schutz von Mensch und Umwelt – #PFAS wären hier ein Beispiel. Diese lineare Beziehung wird jedoch bei medizinischen Geräten oder auch Schutzkleidung fragwürdig, deren Funktion nur durch PFAS möglich wird. PFAS-beschichtete Folien werden zur Abtrennung von Deponien gegenüber Grundwasser eingesetzt. Die Linearität fällt in sich zusammen, da nicht klar ist, ob die positiven Effekte die negativen Folgen der #Substitution bzw. des Verbotes überwiegen werden.
Eine zweite Ausprägung des Hypothesenfehlers ist die Fixierung auf die Gegenwart. Zukünftige oder zukünftig mögliche Probleme werden ausgeblendet. Auch Erfahrungen aus der Vergangenheit werden ignoriert. Die Verhinderung des Klimawandels zum Beispiel wird als die Hauptherausforderung unserer Zeit gesehen. Es gilt, die Erderwärmung um jeden Preis zu stoppen. In Zukunft könnten sich jedoch Ereignisse einstellen, die den Klimawandel vollkommen umkehren, beispielsweise Vulkanausbrüche. Schnell könnte es zu starken Abkühlungen und Verdunkelungen kommen; der Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island in 2010 gab einen Vorgeschmack. Größere Vulkane könnten noch verheerendere Wirkungen weltweit zeigen. Unabhängig von den Maßnahmen zum Stoppen des Klimawandels gilt es, diese Erfahrungen nicht zu ignorieren und die Möglichkeit einer Wiederholung – die auch für die erneuerbaren Energien massive Folgen haben würden – nicht zu vernachlässigen. Der einseitige Blick auf den Klimawandel macht viele blind für weitere, auch gegenläufige Herausforderungen, auf die wir ebenfalls vorbereitet sein müssen.
Als ein letztes Beispiel sollte die „Personalisierung“ nicht unerwähnt bleiben. Treten in Projekten oder Initiativen und Maßnahmenpaketen unerwartete Abweichungen zu den Erwartungen auf, so wird schnell nach einem Schuldigen gesucht. Im Komplexen ist jedoch alles vernetzt. Unter Ausklammerung von Vorsatz sind Schuldzuweisungen nicht zielführend. Stattdessen sind viele Komponenten zu berücksichtigen.
Planungsfehler
Wir betrachten hier zwei Ausprägungen: die Methodenfixierung und die Überbewertung von Korrelationen.
Die Methodenfixierung lässt sich unter anderem an Floskeln wie „das haben wir schon immer so gemacht“ erkennen, die viele verschiedene Formulierungen kennt. Ein aktuelles Beispiel ist die seit Jahren stattfindende Durchsetzung des Dogmas der Substitution von gefährlichen Chemikalien in der EU. Der gewählte gefahrenbasierte Ansatz wird immer weiter fortgeführt, obwohl sich seine Nichteignung seit Jahren zeigt. Beispielsweise gibt es seit vielen Jahren das STOP-Prinzip im Arbeitsschutz. Es setzt eine Substitution an die erste Stelle von Arbeitsschutzmaßnahmen. In vielen Fällen war Substitution jedoch nicht möglich, weil wirtschaftlich und/oder technisch nicht sinnvoll. Stattdessen griffen andere Maßnahmentypen (technische, organisatorische, persönliche Schutzmaßnahmen). #Chromtrioxid im Bereich der funktionellen Verchromung ist ein gutes Beispiel. Hier konnte nicht substituiert werden. Die EU kam jedoch auf die Idee, dass Substitution alternativlos ist. Daher wurde die Beweislast umgekehrt und die Verwender sollten beweisen, dass eine Substitution nicht möglich ist. Diese EU-Idee – genannt #Autorisierung – scheiterte kläglich; nicht nur wegen der enormen Arbeitsaufwände, sondern wegen der unüberschaubaren Folgen entlang der komplexen Lieferketten. Anstatt jedoch den grundsätzlichen Ansatz zu überdenken, sattelt die EU jetzt noch einmal auf: Nun sollen es Substitutionszentren richten, welche die Unternehmen zur Substitution anleiten. „Mehr vom Gleichen“ ist bei erfolglosen Konzepten ein sinnloses Vorgehen.
Die Überbewertung von Korrelationen ist vielen von uns schon untergekommen und auch selbst unterlaufen. Dingen, die gleichzeitig oder am gleichen Ort auftreten, wird ein kausaler Zusammenhang zugeschrieben. Sie müssen jedoch nicht zusammenhängen – zumindest nicht direkt. Nehmen wir wieder eine „wissenschaftliche“ Studie zum PFHxA (ein PFAS), die gern zum Beweis der Schädlichkeit für die Reproduktion herangezogen wird. Die Substanz wurde Nagetieren verabreicht und mit der Zeit bzw. überhöhten Dosen traten verringerte Gewichte bei den Föten schwangerer Tiere auf. Der Zusammenhang scheint klar. Da aber kein Mechanismus ermittelt wurde, handelt es sich lediglich um eine Korrelation, die eine Hypothese nach sich ziehen, aber kein Beweis sein kann. Folgende Überlegung stellt die Schlussfolgerung in Frage: Bei Umrechnung der schädlichen Dosis der Nager auf Menschen, so ergeben sich tägliche Mengen im Grammbereich (die durch keine reale Quelle aufgenommen werden können!). Würde sie einer Schwangeren tatsächlich verabreicht, müsste ihr Magen-Darm-Trakt mit großen Mengen unverdaulichem Material zurechtkommen, die täglich zunimmt. Übelkeit wäre zu erwarten. Monatelange Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft führen aber sicher zu Problemen des heranwachsenden Kindes. Dies ist zwar ebenfalls nur eine Hypothese; sie zeigt jedoch, wie vorsichtig mit der vorschnellen Ableitung von linearen Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus Einzelbeobachtungen umzugehen ist.
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Internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte; Präsident der Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV)
2 MonateWow, das ist wirklich eine hervorragende Zusammenfassung! Fast schon selbstverständlich für alle, die systemisch denken. Leider sind diese in der deutlichen Minderheit.
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2 MonateEndlich setzt sich jemand damit auseinander.Kurz zusammengefasst: Die Realität wird willkürlich vereinfacht und es werden Zusammenhänge geschaffen, wo keine sind, oder Nebenwirkungen schlicht ignoriert. Vielleicht fehlt es auch am Vermögen, mehr als direkte, unmittelbare Wirkungen zu erkennen. Systemdenken ist eben anders als der Glaube an einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Nicht geschieht für sich allein – selbst Nichtstun. So muss man sich nicht mehr wundern, warum die Regierungen und Behörden trotz sicherlich gut gemeinter und weitreichender Maßnahmen immer wieder scheitern. Man bekommt den Eindruck, ein Loch wird verzweifelt zugeschüttet, wobei man mehrere andere aufgräbt. Dankbar für alle, die vom Problem profitieren und nicht von dessen Lösung. Man kann nur hoffen, dass Verantwortliche von diesen Ausführungen lernen. Meist ist es besser, seinen Weg zu hinterfragen, als starrsinnig an der einmal eingeschlagenen Richtung festzuhalten. Das setzt die Fähigkeit zur Selbstkritik und Offenheit voraus. Wer sie sich zu eigen macht, findet im Artikel ein paar helfende Hinweise. Auf zum Umdenken im öffentlichen Diskurs! Probleme müssen gelöst werden und nicht verwaltet.