Heilsame Grenzen
Heilsame Grenzerfahrungen
Grenzen sind uns in der Regel unangenehm, weil sie sich unserem Vorwärtsdrang in den Weg stellen. Daher wollen wir sie meiden und möglichst schnell überwinden. Grenzen möglichst schnell zu überwinden, ist auf einer äußeren Ebene durchaus richtig und legitim: Menschen mit einer Behinderung müssen und sollen nicht auf unnötige und vermeidbare Barrieren und Hindernisse stoßen wie schwere Türen ohne automatischen Türöffner oder nicht abgesenkte Gehsteige etc. (Stichwort Barrierefreiheit).
Doch es wäre eine Illusion, wenn wir uns ein Leben ohne Grenzen und Grenzerfahrungen vorstellen würden, und das betrifft nicht nur Menschen mit einer Behinderung, die Grenzen in einer besonderen Weise erleben und erfahren. Es kann uns alle von außen etwas in die Quere kommen, wie die Corona Epidemie oder wir stoßen innerlich auf Grenzen, die unsere Vorstellungen und Planungen durchkreuzen. Solche Grenzerfahrungen können ganz unterschiedlicher Art sein: eine tiefe Kränkung, eine plötzlich auftauchende Krankheit, eine Partnerschaft die zerbricht, ein Scheitern oder Erfolglosigkeit in der Arbeit, eine unerfüllte Sehnsucht (wie ein Kinderwunsch), eine traumatische Erfahrung…, - solche Erfahrungen, die meist mit unangenehmen Gefühlen verbunden sind wie Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Enttäuschung, Ohnmacht oder Wut, bringen uns an eine Grenze, an der uns klar wird, dass es nicht so weitergeht wie bisher. Die natürliche Reaktion ist jedoch meist die, dass wir das Unangenehme solcher Grenzerfahrungen möglichst schnell loshaben wollen und zurückkehren wollen zum Angenehmen und positiv Bewertetem.
Erfahrungen, dass etwas nicht weitergeht, das etwas seelisch stockt (wie bei einem Stau auf der Autobahn oder an einer Landesgrenze), wird selten als Möglichkeit ergriffen, was Neues zu lernen. Dabei übersehen wir, dass die Grenze, uns auch eine Chance eröffnet, wenn wir bei ihr innehalten und verweilen- bei den Gefühlen und Wünschen, Sorgen oder Sehnsüchten, die jene auslöst. Die Grenze bietet daher auch die Chance mit sich selbst in Kontakt zu kommen, sich selbst zu begegnen und womöglich seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Dort, wo alles glattläuft und wir uns in den geläufigen Routinen bewegen, die uns ablenken, findet selten eine Selbstbegegnung statt. Auch Überidentifikation mit einer beruflichen Tätigkeit, selbst wenn sie sozial ist, kann die Funktion haben, grundlegende Fragen und Befindlichkeiten der eigenen Identität zu vermeiden.
Das Angehaltenwerden an der Grenze und das Aushalten der Grenzerfahrung zeigt uns auch, dass unser eigener Wille, unser Streben und Denken nicht ausreichen, dass wir unser Leben meistern. Solche Grenzerfahrungen eröffnen uns die Einsicht, dass wir nicht die „Herren“ über unser Leben sind und die eigenen Kräfte samt aller Anstrengung nicht ausreichen, um zu einem erfüllten Leben zu kommen. Wenn die illusionäre Selbstsicherheit bisheriger Identität und dem damit verbundenen Handelns infragestellt wird, kann das durchaus verwandelnde Kraft haben.
Uns kann bewusstwerden, dass unser Blick auf die Wirklichkeit und auf uns selbst von untergründigen Strömungen, bislang verdrängten Ängsten, oder unhinterfragt übernommenen Traditionen geprägt worden ist. Und womöglich beginnen wir zu ahnen, dass das, was wir bislang für unsere Identität gehalten haben, nicht ausreicht, um unsere wahre Identität zu bestimmen.
Heute sehen wir im gesellschaftlichen und politischen Bereich etliche Kräfte aktiv am Werk, welche solche Infragestellungen der eingefleischten Weltsicht und der bekannten Identität abwehren wollen und lieber im bekannten Wahrnehmungsgefängnis sich einnisten.
Grenzen öffnen sich oft erst dann, wenn wir sie uns eingestanden haben. Die Grenzen einander in der Begegnung und im Gespräch einander näherzukommen, liegen auch oftmals daran, dass wir nicht bereit sind unsere Schwächen, unser Scheitern, die Brüche und Kränkungen unseres Lebens vor dem anderen einzugestehen und lieber die glatte Fassade wahren.
Das sich Aufhalten an der Grenze bietet jedenfalls die Chance, sich tiefer kennenzulernen, muss jedoch auch geübt werden. Die Meditation kann eine Hilfe zu solcher Einübung sein. Dort gilt es zunächst die oft schmerzhaften Grenzen des Körpers auszuhalten, dann aber auch psychische Erfahrungen wie die Langeweile oder Lustlosigkeit des Nicht-Tuns, ein Gedankenkarussell, das sich wie selbstständig weiterdreht, Unangenehmes zum Vorschein bringt und den womöglich angezielten inneren Frieden verhindert. Leider geben an dieser Stelle viele vorzeitig auf und sagen: „Die Meditation bringt mir nichts“, weil sie nicht den Erwartungen entspricht. Dabei geht es in der Mediation nicht darum, etwas zu erreichen, sondern das was „Hier und Jetzt“ ist, zuzulassen und anzunehmen, und nicht das, was ich mir vorstelle und wünsche. (zur Vertiefung empfehle ich: Bertram Dickerhof, Innehalten an Grenzen - Grenzen überwinden, Eine Grundlegung der Meditation, Echter Verlag, Würzburg 2024)
Neulich sah ich einen Holundertsrauch, der sich durch das Abdeckgitter eines Kellerschachtes gezwängt hat. Grenze können also auch durchwachsen werden, wie der Holunderstrauch, der sich durch das Gitter zwängt; das begrenzende Gitter wird er wohl nicht mehr los, es gehört jetzt zu seiner Identität, aber es hindert ihn nicht am Weiterwachsen.
Impuls zu Nachdenken:
Welche Gedanken und Bilder kommen Dir beim Wort Grenze?
Welche Grenzen (von innen, von außen) erlebst Du?
Gustav Schädlich-Buter, Seelsorger in einer Einrichtung für Menschen mit einer körperlichen Behinderung