Es täuscht, was nahe liegt

Bereits seit zwei Spielsitzungen treten wir auf der Stelle. Unsere Gruppe postapokalyptischer Abenteurer streift durch das, was im Jahr 2586 aus Toulon geworden ist. Eine Stadt unterschiedlicher Kulturen unter einem strengen Herrscher. Sowie hier liegt vielleicht nirgendwo im Lande Frankas die Kluft zwischen Arm und Reich, Macht und Machtlosigkeit nur eine Straßenkreuzung entfernt. Wir sind nur Reisende in einer Stadt die Fremde nur mürrisch empfängt. Um unsere Unterkunft zu bezahlen sind wir in Lohn und Brot eines ansässigen Händlers getreten.

Eine Gruppe Jugendlicher erpresst Schutzgelder von den Geschäften. Was geschieht, wenn nicht gezahlt wird, verraten die schwelenden Überreste der niedergebrannten Gerberei. Erst vermuten wir eine der am Hafen ansässigen Ledereien als Auftraggeber, vielleicht wollten sie nur einen unliebsamen Konkurrenten ausschalten. Francis, vermutet vehement die Orphanage hinter den Schutzgelderpressungen. Liegt es doch nahe, schließlich werden hier junge Menschen für niedere Tätigkeiten, als Gegenleistung für ein Dach über dem Kopf, vermittelt. Dazu kommt, dass der Ruf des Waisenhauses in Toulon nicht der Beste ist. Es liegt alles so nahe, doch Ende unsere Spielsitzung werden wir eines Besseren belehrt und alle Hinweise führen in eine komplett andere Richtung.

Was war geschehen? Wir sind auf eine erzählerische Finte hereingefallen, dem roten Hering.

Aus dem Englischen übersetzt bedeutet „red herring“ so viel wie Täuschungsmanöver, oder jemanden auf die falsche Fährte locken. In der Erzählung, vor allem im Krimi, wird mit einem roten Hering die Aufmerksamkeit der Leser*in auf ein nebensächliches Ereignis, oder einen Gegenstand gelenkt, um von der eigentlichen Handlung abzulenken. „Der Mörder ist immer der Gärtner“ ist für mich einer dieser Aussprüche, die auf einem roten Hering basieren.

In der Welt der Point & Click Adventures begegnen uns rote Heringe an vielen Stellen. Es sind diese Items, die wir in unserem Inventory mit uns herumschleppen und bis zum Ende des Spiels keinen wirklichen Nutzen dafür gefunden haben. Einer dieser bekanntesten Gegenstände ist wohl die Kettensäge aus Maniac Mansion für die es kein Benzin gab, oder der rote Hering, der in Secret of Monkey Island dem Brückenwächter übergeben werden musste.

Auch im Sprachgebrauch finden wir den unliebsamen Fisch. Er begegnet uns immer dann wenn Argumentationen sich nicht mehr an der Sache orientieren sondern ein Thema zum Beispiel emotionalisiert wird. „Ich würde eine Verbreiterung der Fahrradwege in Innenstädten begrüßen, um für mehr Sicherheit der Fahrradfahrer im Berufsverkehr garantieren zu können.“ „DAS ist ja mal wieder typisch du links-grüner Autohasser. Deine ökoverliebte Einstellung wird unser Land noch in den Ruin führen und einparken kannst du auch nicht.“

Ein roter Hering kann also ein erzählerisches Stilmittel sein, um eine tatsächliche Handlung zu verschleiern oder Spieler*innen oder Leser*innen auf eine andere Spur zu lenken.

Es kann ein Gegenstand sein, dem wir mehr Wert beimessen als er tatsächlich besitzt,

oder ein rhetorisches Instrument, um ebenfalls vom eigentlichen Thema abzulenken.

Am Haken des Herings - oder die Lösung in die ich mich verliebte

Tatsächlich glaube ich, das uns rote Heringe auch des Öfteren im beruflichen Alltag über den Weg laufen ohne das sie uns wirklich bewusst sind.

Alleine beim Schreiben dieses Artikels entpuppt sich mein Laptop und mein Smartphone als ein einziger roter Hering. Ablenkungen sind nur einen Handgriff oder einen Mausklick entfernt und verstecken sich in eMail Notifications oder dem verheißungsvollen Blinken des Smartphones das einen Lockt wie einst die Sirene die Seemänner ins Verderben.

Im Produktdesign finden wir den roten Hering zum Beispiel in Grafiken die den Nutzer dazu verlocken eine Funktion dahinter zu vermuten. Ein versehentlicher roter Hering führte dazu das Nutzer den Login Bereich nicht fanden, weil das Consent-Banner den Anmeldebereich verdeckte.

Meetings, die sich nicht an der Agenda orientieren, laufen ebenfalls Gefahr sich an einem roten Hering zu verbeißen.

Wenn wir Lösungen nicht aus der Sicht des Kunden und seinem Bedürfnis entwerfen, laufen wir ebenfalls in die Gefahr einen Lösungsweg einzuschlagen der sich als roter Hering entpuppt.

Was nutzt mir ein Skateboard als MVP, wenn mein Kunde ein Fortbewegungsmittel für lange Strecken wünscht? Oder kennen wir wirklich den Grund warum Kunden einen Milchshake kaufen?

KPIs die nicht im Kontext betrachtet werden, können sich auch zu roten Heringen verwandeln, die falsche Sicherheit bieten. Wir können uns über hohe Page-Impressions freuen, aber die viel zu hohe Absprungrate außer Acht lassen. Stolz präsentieren wir die aktuellen Follower-Zahlen, jedoch werden diese nicht in aktive Käufer*innen unserer Produkte verwandelt. Freudig präsentieren wir 1000 neue Newsletter-Abonnenten, aber nur 10 Nutzer*innen davon öffnen ihn auch tatsächlich.

Zurück ins Wasser - oder wie ich den Fisch vom Haken bekomme

Als Storyteller ist der rote Hering Freund und Feind zu gleich. Gekonnt eingesetzt wird die Geschichte nicht zu vorhersehbar, im schlechtesten Fall wird sie entweder demotivierend oder verwirrend.

Im Alltag, egal ob beruflich oder privat hilft uns nur das Bewusst machen, dass es diesen kleinen stinkenden Fisch gibt, der uns so gerne vom wesentlichen ablenkt.

Eine Möglichkeit wäre es einen roten Hering als Stofftier in die Mitte des Konferenztisches zu legen, dort liegt er als visueller Anker und Hinweisgeber.

Vielleicht möchtet ihr auch gemeinsam Heringe angeln gehen und eure teamspezifischen Ablenkungen identifizieren.

Teilt gerne mit mir eure Vorschläge und Gedanken zum roten Hering. Wie geht ihr in euren Projekten und Teams mit den offensichtlichen und nicht ganz so offensichtlichen Ablenkungen um. Welche Möglichkeiten fallen euch noch ein einen roten Hering zu identifizieren?