Kann die Schweiz den sozial-ökonomischen und sozial-ethischen Bankrott der Kranken- und Invaliden-Versicherung noch abwenden?
Das Strassenmagazin "surprise"agiert gerne mit Schlagzeilen. So war in einer der letzten Ausgaben zu lesen: "Die IV spuckt den Schwächsten ins Gesicht".
Nun ist das nicht wörtlich zu nehmen, aber die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Invalidenversicherung, welche einen harten Sparkurs fahren muss, zeigen doch, dass dieses Sozialversicherungswerk zu einem Instrument des Sozial-Dumpings zu werden droht.
Das war gewiss nicht die Absicht der Schöpfer des IVG, aber sie sind einer Illusion erlegen: Sie glaubten, die politische, ökonomische, versicherungsrechtliche und versicherungsmathematische Behandlung der wirtschaftlichen Folgen von Krankheit lasse sich unabhängig von der entsprechenden Behandlung der Prävention, der Heilbehandlung und der Rehabilitation von Krankheiten lösen.
Tektonische Grabenbrüche zwischen UVG und KVG/IVG seit 1912
Die Separatbehandlung von inhaltlich eng zusammengehörenden Bereichen sozialer Sicherheit ist alt.
Kurz nach der Schaffung des KUVG (Kranken- und Unfallversicherungs-Gesetz) im Jahr 1912 nahm eine unheilvolle Entwicklung ihren Lauf, und sie war das Resultat eines unaufhörlichen zähen Ringens zwischen den Interessenvertretern der Linken und den Wirtschaftsverbänden um politisches Prestige und wirtschaftliche Macht. Einzig die Unfallversicherung wurde 1917 auf der Basis des UVG und des operationellen Starts der SUVA umgesetzt, das Krankenversicherungsgesetzt KVG konnte erst knapp 80 Jahre später realisiert werden.
Schon die Ausgestaltung des ersten Sozialwerks unter dem Dach des KUVG, der Unfallversicherung, führte zur Aufspaltung des Unfallversicherungsmarktes in die staatsnahe SUVA, der eine Nische mit ein Monopol für die Industrie eingerichtet wurde, und aller übrigen Branchen, die der Privatversicherung überlassen wurden. Unmittelbare Folge dieser Aufteilung war eine nachhaltige Verbesserung der Unfallprävention im Sektor Industrie, während diese im Bereich der Landwirtschaft noch jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Immerhin erkannte die Versicherungswirtschaft mit der Zeit die Vorteile einer engen Zusammenarbeit mit der SUVA als Kompetenzzentrum für die Kosten-Nutzen-Analyse in der Prävention, der systematischen Heilbehandlung, Rehabilitation und Wiedereingliederung von Unfall-Patienten, aber der durch das UVG sichergestellte uneingeschränkte Zugriff der SUVA zu den individuellen Falldaten blieb ein sozialversicherungsrechtliches Nischenprodukt.
Die systeminternen Bruchlinien vertieften sich mit der separaten Entwicklung von KVG (Kranken-Versicherungs-Gesetz) und IVG (Invaliden-Versicherungs-Gesetz).
KVG ohne Leistungsauftrag für Prävention und Ausgleich wirtschaftlicher Folgeschäden
So fiel beim Leistungsauftrag für die Krankenversicherer die Prävention aus, und anders als bei der Unfallversicherung, wo die Anforderungen an Risikoprämien und Risiko-Kapital auch die wirtschaftlichen Folgen von Schadenfällen durch Unfall oder Berufskrankheit umfassen, dispensierte der Gesetzgeber die Krankenversicherer von der Übernahme der Folgekosten und übertrug diese der Invalidenversicherung (IVG).
Die Folge ist ein tiefer tektonischer Grabenbruch in der Sozialversicherung - und der Privatversicherung - welcher eine ganzheitliche, auch im individuellen Fall berücksichtigte - Betrachtung der Prävention, der Schadensminderung und dem Ausgleich unkorrigierbarer wirtschaftlicher Langzeitschäden von Krankheit geht.
Im Extremfall kommt es zu absurden Szenarien.
Ein konkretes Beispiel:
Nach einem Verkehrsunfall übernimmt die Privatassekuranz den Fall und organisiert Heilbehandlung und Rehabilitation. Der Verlauf erweist sich als komplex, die Versicherung veranlasst laufend weitere Abkkärungen, weist den Patienten nacheinander verschiedenen Rehabilitationsklinken zu und erklärt nach 2 Jahren, der nach wie vor unbefriedigende Zustand des Patienten sei keine Unfallfolge. In der Folge fallen sämtliche Heilbehandlungen und Rehabilitationsbemühungen bei diesem Patienten in die Zuständigkeit der Krankenversicherung. Erlangt dieser nicht innert nützlicher Frist seine Arbeitsfähigkeit, erfolgt eine Anmeldung bei der Invaliden-Versicherung. Diese fordert bei den behandelnden Ärzten detaillierte Berichte an und entscheidet dann in eigener Kompetenz, ob der Patient einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte. Zentrale Kriterien für die Erwerbstätigkeit sind "Zumutbarkeit" und "ausgeglichener Arbeitsmarkt".
Nicht selten werden neben den Berichten der behandelnden Ärzte bei qualifizierten Fachspezialisten (Neurologen, Orthopäden, Rheumatologen, Psychiatern) versicherungsmedizinische Gutachten erstellt, deren Fragestellungen aber zwangsläufig nur Teilaspekte betreffen. So können vor einem negativen Rentenentscheid der IV Kosten zwischen CHF 10,000 und 30,000 für Gutachten anfallen.
Der Patient, dessen physisches Trauma infolge der zwei Jahre dauernden, durch den Unfallersicherer mit hohem Mitteleinsatz betriebenen Beschäftigung mit dessen Behebung zu einem psychischen Trauma mutiert hat, und der nachgerade überzeugt ist, nie wieder gesund werden zu können, hat in dieser Zeit längst den Zugang zum primären Arbeitsmarkt verloren und wird, nach dem negativen Rentenentscheid der IV, in die nächste Stufe des sozialen Abstiegs, zur Sozialfürsorge gewiesen, es sei denn, er verfüge noch über eigene finanzielle Resourcen. Nun nehmen sich seiner Fachärzte für Psychiatrie, Sozialarbeiter und die Mitarbeiter von Diensten für Wiedereingliederung an.
Das Beispiel zeigt vor allem, dass ein einziges Schadenereignis von einer Mehrzahl von Versicherungsträgern mit unterschiedlichem Leistungsauftrag, unterschiedlicher Finanzierung, unterschiedlichen Kompetenzen und Arbeitsweisen bewirtschaftet wird, und dass die Effektivität und die Effizienz der Massnahmen der verschiedenen Akteure keineswegs evident ist.
Gibt es einen Ausweg aus dem verfassungsrechtlich und gesetzgeberisch legitimierten verfilzten sozial- und privatversicherungsrechtlichen KVG/UVG/VVG- Filz ?
Die Antwort heisst JA. Was nun nottut ist eine politische, ökonomische, versicherungsrechtliche und versicherungsmedizinische Grundsatzdiskussion mit dem Ziel, den Grundgedanken des KUVG von 1912 auf die künftige Gestaltung der Kranken- und Unfallversicherung anzuwenden.
Fusion KVG/IVG unter einem gesetzlichen Dach!
Zentrales Thema muss dabei die Fusion von Kranken- und Invalidenversicherung unter einem gesetzlichen Dach sein, das die Krankenversicherer zur aktiven Finanzierung vob Prävention und dem Ausgleich wirtschaftlicher Folgen von Krankheit verpflichtet, aber auch der Privatassekuranz unter analogen Vorgaben die Möglichkeit bietet, entsprechende innovative Produkte anzubieten.
Wenn die Gesundheitspolitik Wettbewerb fordert, wie beispielsweise im Bereich der Spitäler, muss sie konsequenterweise auch Wettbewerb mit fairen Regeln in der Sozial- und Privatversicherung fordern.
Das IVG abschaffen. Den IV-Auftrag analog zum UVG ins KVG integrieren
Das erste Gesetz, welches im Anschluss an die hier geforderte Grundsatzdiskussion geschleift werden muss, ist das untaugliche und sozialpolitisch kontraproduktive IVG und die Integration des IV-Auftrags in das KVG, unter vollständiger Öffnung desselben für die Privatassekuranz.
Chief-Editor bei oncoletter.org
3 JahreCOVID-19 hat die fachliche und oft auch menschliche Inkompetenz des Parlaments drastisch aufgezeigt. Es dürfte leider eine Illusion sein zu glauben, dass das Parlament beziehungsweise die politisch Verantwortlichen praktikable Lösungen für die IV und für Prävention als wichtiges Kostensparinstrument aufgleisen könnten.
Lecturer bei Private Universität im Fürstentum Liechtenstein
3 JahreSehr gut resümiert! "So fiel beim Leistungsauftrag für die Krankenversicherer die Prävention aus". Eine Anschlussfrage: Die Option für Prävention scheint den Krankenversicherern doch noch offen zu stehen, und so macht jede Versicherung so ein bisschen etwas, zB Beiträge für Fitness-Abo. Wie bewertest Du Wirksamkeit und nutzen davon ? LG Peter