Von Introvertierten, Schaumschlägern und persönlicher Verantwortung.
Martin Lifka Photography

Von Introvertierten, Schaumschlägern und persönlicher Verantwortung.

Ich muss doch kein Schaumschläger sein, um mir Gehör zu verschaffen.

Denkt sich Sven. Er hat allen Grund dazu. Er sitzt gerade mit einem Dutzend Kollegen im Meeting. Jeder kommt mal zu Wort. In dem Moment, als Sven beginnt zu sprechen, greift die Hälfte der Anwesenden zum Smartphone. Die Anderen hören nur noch halbherzig zu. 

Bis auf einen. Und der fackelt nicht lange.

Nach weniger als zwei Sätzen, unterbricht er Sven. Genauer gesagt, überfährt er ihn mit seinen Wortsalven. Der Begriff „überreden“, bekommt hier eine völlig neue Bedeutung.  Und Sven gibt schnell kleinlaut bei. 

Während nun alle im Raum dem Kollegen gespannt zuhören, sinkt Sven tiefer in seinem Stuhl. Dabei fühlt er einen Mix aus Scham, Ärger und Wut. Und diese Wut richtet sich gegen seinen Kollegen. 

„Was für ein Arschloch. Immer muss er sich in den Vordergrund spielen. Wäre die Welt doch eine bessere, würde es weniger von den extrovertierten Plappermäulern wie ihm geben.“

So viel zur Theorie. Aber die Praxis sieht anders aus. Sie sind überall, die Schaumschläger. Besonders dort, wo es eine Bühne gibt, treten sie lautstark in Erscheinung. 

So auch auf dem Strategiemeeting eines Versicherungsdienstleisters. Hier kommt die obere Führungsebene zusammen. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer suchen sie Antworten. 

Antworten auf die Frage: wie steigern Sie Ihre Umsätze, ohne dabei Ihre Integrität zu verlieren?

Ein externer Moderator schafft die Herleitung von der Begrüßung zum eigentlichen Thema. „Wie sind Ihre Erfahrungen mit Integrität?“ will er wissen. Aus der zweiten Reihe ruft jemand rein. 

„Bitte kommen sie kurz nach vorne um Ihre Meinung zu vertreten.“ reagiert der Moderator.

„Aber ich kann doch auch von hieraus sprechen“ entgegnet einer der Teilnehmer. 

„Das glaube ich Ihnen gerne. Und weil es heute schließlich um Integrität geht, dürfen Sie jetzt von hier vorne Ihre Meinung kundtun. Denn Integrität bedeutet ja auch, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Und wenn es sein muss, auch vor der ganzen Gruppe.

Als der Manager vorne steht und seine Meinung teilt, verdreht Sven Kreuzmeier die Augen.

„Bitte verschone mich mit Deinem oberflächlichen Gesülze. Außer heiße Luft zu produzieren, kannst Du doch sowie nichts“ denkt er sich. Kritisch beäugt er seinen Kollegen, der gerade verbal ausholt zum Thema Integrität. 

Claudio strotzt nur so vor Selbstvertrauen. Klar, der Mittvierziger macht einen guten, wenn nicht sogar sehr guten ersten Eindruck. Er ist immer gut gekleidet, kann sich gewählt ausdrücken und ist obendrein auch noch sehr sympathisch.

Aber wenn man Claudio auf den Zahn fühlt, wird das Gerüst schnell wackelig. Bei konkretem Nachfragen, merkt man schnell, was ihm fehlt: substanzielles Wissen. Alle im Team kennen Claudios Stärken, Schwächen und Geheimnisse. Bis auf den Einen.

Und für ihn, ist Claudio noch ein unbeschriebenes Blatt. Dann kommt es, wie es kommen muss. Er, der neue Geschäftsführer, lauscht Claudio mit sichtbarer Begeisterung. Er hat seine volle Aufmerksamkeit.

Und während die ‚Claudio Show‘ weiter geht, kommt Sven immer mehr ins Grübeln. Eigentlich wollte er seine Idee zum Thema Integrität mit den anderen teilen. Aber desto mehr Claudio erzählt, desto größer werden Svens Zweifel. 

„Lass es bleiben. Behalte die Idee lieber für Dich.“ geht es Sven durch den Kopf.  Dabei beobachtet er Claudio mit gemischten Gefühlen. 

„Was für ein Schaumschläger. Wenn auch ein Netter. Aber schau, wie sie ihm an den Lippen hängen. Nur mit dem Thema Integrität hat er sich wahrscheinlich noch nie auseinander-gesetzt. Trotzdem hören ihm alle zu. Verrückt.

Noch verrückter ist, dass wenn Claudio meine Idee vortragen würde, dann würden mir alle zuhören. Dann wären alle Feuer und Flamme. Aber muss ich denn einen auf dicke Hose machen, damit andere meinen Ideen folgen? 

Am Ende des ersten Tages treffe sich alle im Kaminzimmer. Bei einem Glas Wein lassen sie den Tag ausklingen. Und genau da passiert es. 

Sven sitzt einige Meter von Claudio entfernt. Trotzdem kann er jedes Wort hören. Aber er traut seinen Ohren nicht. Hat Claudio das gerade wirklich gesagt? 

„Im Studium hat mir keiner zugehört. Niemand hat sich für meine Ideen interessiert. Schwer vorstellbar, nicht wahr?“

Sven lauscht, ohne dass es jemand merkt.

"Während meines Studiums habe ich eine Auslands Semester gemacht. Von den vielen Erfahrungen aus dieser Zeit, hat mich eine ganz besonders geprägt. 

Als ich in Wyoming angekommen war, fühlte ich mich unwohl. Die englische Sprache beherrschte ich wenig. Ich kann Niemanden. Außerdem war ich der einzige, der ein dort ein Auslandssemester machte.

Außerhalb der Vorlesungen hatte jeder meiner Kommilitonen was zu erzählen. Sei es vom Baseball, eine Geschichte ihrer Eltern oder spannende Anekdoten von berühmten Unternehmern.

Und ich? Während die Anderen sich austauschten, saß ich häufig passiv dabei und lauschte. Wurde ich nach meiner Meinung gefragt, sagte ich oft nur: „I don´t know.“ 

Was allerdings gelogen war. Hatte ich doch schließlich eine Meinung. Nur traute ich mich nicht, sie kund zu tun. Und genau das, sollte sich zu meinem Problem entwickeln.

Es passierte im Kurs von Prof. Dr. Wesley Wiggins. Er vertiefte ein Thema, welches damals noch wenig Aufmerksamkeit genoss. Business Ethics.

Business Ethics eröffnete mir Einblicke in die Wirtschaftswelt, die mir noch gänzlich unbekannt waren. Und zu Beginn des Semesters stellte Prof. Wiggins uns eine Aufgabe.

Ihr erarbeitet fünf Thesen, weshalb globale Konzerne in Zukunft erfolgreicher am Markt bestehen, wenn sie auf ethische Grundprinzipien zurückgreifen können. 

Ihr erarbeitet die Lösung in Gruppen. Ihr habt vier Wochen Vorbereitungszeit. Um die Ergebnisse aufzuzeigen, bekommt jede Gruppe 90 Minuten Präsentationszeit.

„Puuuh", dachte ich. Das wird spannend. Fünf Thesen zu erarbeiten ist das eine. Aber gemeinsamen Nenner zu finden, das andere. Besonders wenn es pro Gruppe sieben Studenten sind. 

Trotzdem lief es besser als erwartet und die Zeit verflog. Trügerische Harmonie. Es kam der Tag der Präsentation. Der Sprecher unserer Gruppe war der großgewachsene Mike Miller. Er war der Kapitän der Basketball Mannschaft und genoss einen guten Ruf an der Uni.

Er präsentierte unsere Ergebnisse. Da er aber nicht alles alleine machen wollte, gab es noch einen zweiten Studenten, der präsentieren musste. Ich hatte zwar alles getan, um nicht auf der Bühne zu stehen, aber als die Frage aufkam: „Who is presenting beside Mike?“ ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. „The German will do this job“. 

Der Plan war, dass Mike These Nummer eins, drei und fünf präsentiert. Ich stellte zwei und vier vor. Allerdings hatte ich meiner Gruppe etwas verschwiegen. 

Beide Thesen widersprachen meiner persönlichen Überzeugung. Ich hielt meine eigenen Ideen für sinnvoller, als die meiner amerikanischen Kommilitonen. Ich blieb jedoch passiv, da ich wenig Einfluss auf die Gruppendynamik hatte. So habe ich mich also voll in den Dienst der Anderen gestellt. Apropos die Anderen.

Ich weiß bis heute nicht, weshalb die Anderen nicht neben Mike präsentieren wollten. Was ich aber weiß, dass ich mich damals geschämt habe. Und als ich dann vorne im Saal stehe, spielen meine Gedanken verrückt. 

„Wer zum Teufel will mir schon zuhören? Ich kann doch gar nicht so gut wie die Anderen sprechen. Und außerdem habe doch gar keine Ahnung vom Thema.

Doch es ist zu spät. Mikes ist bereits in vollem Gange und im Saal kann man die Stecknadel fallen hören. Also Augen zu und durch.

Und was soll ich sagen. Bis auf einige kleine Versprecher habe ich mich ganz gut geschlagen. Als wir fertig sind, gibt Mike mir als erster high five. Dann folgt ein ordentlicher Applaus. Selbst die Klugscheißer im Kurs klatschen. Nur einer hält sich zurück.

Als die Vorlesung zu Ende ist, bleibt unsere Gruppe noch bei Professor Wiggins stehen. Er gratuliert uns noch einmal persönlich mit seinem kräftigen Händedruck. Stolz packe ich meinen Rucksack und mache mich auf zum Ausgang. Doch ich komme nicht weit. 

„Claudio, hast Du einen Moment?“ höre ich die Stimme von Professor Wiggins hinter mir?

„Natürlich“ sage ich, während ich schlagartig nervös werde. Was will er von mir? Hab ich was falsch gemacht?

„Komm´ setze Dich Claudio“ sagt er, in einem väterlichen Ton.

Ich setze mich. 

„Claudio, als Du Deine Thesen vorgestellt hast, da habe ich was wahrgenommen.“

„Ach ja? Was denn?“

„Ich behaupte, dass was Du vorhin gesagt hast, widerspricht Deiner Überzeugung. Du hast das gesagt, was gesagt werden sollte. Weil ihr es in der Gruppe so abgestimmt habt. Und meine Antennen sagen mir, dass Deine eigene Meinung eine Andere ist. Aber, wer weiß. Vielleicht liege ich auch total falsch.“

„Woher wissen sie das?“

„Ich weiß es nicht. Ich spüre es. Wir alle können so etwas spüren. Solange wir uns nur auf andere einlassen.“

„Ja mag sein. Aber wie soll ich meine Überzeugungen rüberbringen, wenn mir sowie keiner zuhört. Von allen im Kurs bin ich der Jüngste. Englisch ist nicht meiner Muttersprache. Und obendrein bin ich noch der unerfahrenste. 

Ich müsste also irgendwas vorgeben, damit die Anderen mir Aufmerksamkeit zollen. Aber mich mit Dingen rühmen, die ich nicht kann oder nicht weiß, find ich doof. So was machen nur Luftpumpen und Schaumschläger. 

Plötzlich geht ein Ruck durch den Professor. Er lehnt sich in seinem Stuhl nach vorne und fixiert mich mit seinem Blick. Dann legt er seine Hand auf meine Schulter und sagt:

„Claudio, Du musst kein Schaumschläger sein, um Dir Gehör zu verschaffen. Was Du musst, ist Dir Deiner Verantwortung bewusst zu werden.

Denn Du trägst immer eine Verantwortung. Heute als Student, morgen als Mitarbeiter und übermorgen vielleicht als Chef, Ehemann oder Vater. Deshalb gehe aufmerksam mit Deinen Gedanken um.

Und wenn Deine Ideen anderen helfen können, musst Du sie kundtun. Behältst Du sie für Dich, machst Du Dich schuldig.“

„Schuldig?“ 

„Ja, schuldig. Wegen unterlassener Hilfeleistung. Wenn Du gute Ideen hast, ist es Deine Pflicht sie zu teilen. Aber lass Dir eines gesagt sein. Egal wie gut Deine Ideen sein mögen, eines ist sicher:

Aufmerksamkeit bekommt Du nicht geschenkt. Aufmerksamkeit musst Du Dir hart erarbeiten. 

"Aber wie schaffe ich das?"

"Das erzähl ich Dir ein ander mal, Claudio."

Im Kaminzimmer ist es still geworden. Claudio schaut jetzt rüber zu Sven.

"Man kann mir nachsagen, ich sei oberflächlich, extrovertiert mit leicht narzistischen Zügen. Dem mag ich gar nicht widersprechen. Aber wenn ich eine Meinung habe, tue ich sie kund. Auch das ist für mich persönliche Integrität."

Aber wem erzähl ich das.

Michael Geerdts

Mit Storytelling wirkungsvoll präsentieren I Für Führungskräfte, Solopreneure und Key-Accounter, die Spuren hinterlassen möchten I Hol das Lagerfeuer an den Konferenztisch

6 Jahre

"Nice bike!" Max. Herzlichst Michael.

Stefan Schmidt

Manager Strategische Entwicklung Handel bei Walter Tools

6 Jahre

Wunderbar geschrieben. Große Klasse!

Zum Anzeigen oder Hinzufügen von Kommentaren einloggen

Ebenfalls angesehen

Themen ansehen