Wir müssen uns den Eignungsdiagnostiker als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Blick ins Licht

Wir müssen uns den Eignungsdiagnostiker als einen glücklichen Menschen vorstellen.

„Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen.“ (Apostelgeschichte 9, Vers 16, - Lutherbibel)

Seit ich mich mit beruflicher Eignungsdiagnostik beschäftige ist mein Leben besser. Ohne Frage.

Aber: es gibt Nebenwirkungen: Wachstumsschmerzen beim Sehen lernen ("learning to see" im Sinne Mike Rothers).

Berufliche Eignungsdiagnostik ist ein wichtiger Moderator für Machtprozesse in Organisationen. Alle, die für evidenzbasierte Personalauswahl einstehen, stören Machtspiele (mikropolitische Prozesse im Sinne Oswald Neubergers). Machtmotivierte Menschen nutzen Begriffe wie „Bauchgefühl“ und „Intuition“ ebenso geschickt um Macht zu erhalten und auszubauen wie „Partizipation“. Man erscheint da menschlich ohne es sein zu müssen. New Work wird bekanntlich gerade durch solche Schauspieler untergraben.

„… und klettert, weil er sonst nichts muß.
Die Ahnen kletterten um Urwald.
Er ist der Affe im Kulturwald.”
(Erich Kästner, Der Streber)

Klar, denkt der Machtmensch, da kommt einer und will Macht durch Eignungsdiagnostik erzielen: um was sollte es denn sonst gehen? Für die, die nur einen Hammer haben ist jedes Problem ein Nagel. Und dann wehrt sich der Machtmensch. So wie er das am besten kann, durch Mikropolitik: Gerüchte streuen, Seilschaften und Hierarchie bemühen.  

Aber man stört auch insoweit als Eignungsdiagnostiker als man Autorität in Frage stellt. Das Hergebrachte taugt nicht (mehr), zahlt aber – gerade über Hierarchie – auf Autorität ein. Da ist die Sorge – bei manchen sogar die Angst – zuzugeben, dass es anders besser wäre. Ist man denn dann als der oder die, die sich irrte noch tragbar in der Wissensgesellschaft? "Heißt anders ist es besser nicht vielleicht auch: mit anderen als mir ist es besser?", denkt die Autorität im Recruiting.

„Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte, und nicht losließe bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem was ihm nun für das Wahre gegeben wird.“ (Platon, Der Staat, Siebentes Buch: „Höhlengleichnis“ - Schleiermacherübersetzung)

Und unser Diagnostiker leidet, wenn die Umstände gute Personalauswahl nicht zulassen oder nicht zuzulassen scheinen. Es ist ja nicht einfach mit der wissenschaftlichen Evidenz in der Praxis. Vielleicht ist er manchmal auch nicht mutig genug oder zu tapsig? Die Organisation findet jedenfalls immer viele gute Gründe die Investition in gute Personalauswahl zu scheuen.  

Der Diagnostiker weiß, wie es geht, müht sich ab den Stein zum Gipfel zu rollen. Und sieht ihm nun hilflos beim Hinabrollen zu: „Keine Zeit für Anforderungsanalysen. Die Personalanforderung muss reichen“. „Dann macht der Fachbereich eben das Interview selbst.“ „Wieso Diagnostik? Wir haben andere Probleme im Change!“ Alternativ: „Das Geschäft blüht doch – da haben wir doch nichts falsch gemacht bei der Auswahl.“ Oder: „Wollen Sie etwas sagen Ihre Kollegen sind nicht gut genug, weil wir nicht unsere Auswahl nicht nach DIN33430 ausrichten?“

Was tun?

„Da hilft nur einatmen und vorwärts gehen.“ (Gisbert zu Knyphausen).

Und, mir persönlich, helfen die recruitingrebels (und der Rest meiner heiß geliebten Recruitingblase).

Wir müssen uns den Eignungsdiagnostiker als einen glücklichen Menschen vorstellen.

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Carsten Mende

#ChangeGamer: Ändere nicht das Spiel sondern lerne das Spiel zu beherrschen.

3 Jahre

Ich fühle Deinen Schmerz... Personalauswahl wird immer esoterischer und gruseliger je höher die eingebundene Hierarchie. Die Führungskräfte, die nah am Menschen und der "realen" Arbeit sind, sind dankbar für eine bessere Auswahl. Von Dir bezeichnete Machtmenschen haben "schon soo viele Leute eingestellt" und wenn es nicht klappt, dann sind sie Meister im Finden von Schuldigen... und wenn es nur der Kandidat war, bei dem man ja im Nachhinein eh ein Gefühl hatte auf das man hätte hören sollen...

Jörg Westphal

Personalberater | für Nachhaltigkeitspositionen, Qualitätspositionen und TIC-Industrie | Spezialisten & Führungskräfte | gute Personalauswahl mit Eignungsdiagnostik

3 Jahre

Lieber Thimo, zunächst sei bedankt für deine schönen Worte! Vielleicht solltest du dein schriftstellerisches Talent als Autor nutzen ... vielleicht unterstützt eine Potenzialanalyse bei deiner Neuausrichtung? 😁 Ich kann, wie wahrscheinlich viele der RR und Anwender der Eignungsdiagnostik, die Geschichte gut nachvollziehen. Erst heute habe ich wieder in einem Gespräch die Aussage bekommen, das es "außer den Noten für das Studium ja sonst keinen Nachweis über die (Intelligenz) Qualität in der Arbeit gäbe". Ich habe mich, ehrlich gesagt, nicht wirklich getraut, das Thema Aussagequalität von Noten im Berufsleben / Auswahl mit Hilfe von Eignungsdiagnostik anzusprechen. Die Aussage kam so absolut und ließ scheinbar keine andere Meinung zu. Aber ich verspreche, ich werde es nochmal thematisieren. Und so rollt der Stein weiter den Berg herauf, und wieder ein Stück runter, wieder rauf ... mühsam halt😥 Aber wir machen weiter, es kann nur besser werden!

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