DER GORDISCHE KNOTEN BRASILIENS WARTET AUF SEINEN ALEXANDER DEN GROSSEN

DER GORDISCHE KNOTEN BRASILIENS WARTET AUF SEINEN ALEXANDER DEN GROSSEN

Brazil has many problems. The example of industry shows what can be done wrong. And the example of agriculture shows us how to do it right. Why the recipe for success in agriculture cannot be transferred to other sectors is anyone's guess.

Leider ist weder dieser Alexander in Sichtweite noch haben wir es mit einem einzigen Knoten zu tun. Den Brasilien hat nicht nur viele genutzte und ungenutzte Möglichkeiten, sondern auch sehr viele Probleme. Und wenn eines gelöst wird, wachsen zwei nach, wie die abgeschlagenen Köpfe der Hydra aus der griechischen Mythologie. Nicht umsonst sagt man den brasilianischen Politikern nach, dass sie Probleme schaffen, um Lösungen zu verkaufen.

Ich greife hier nur zwei dieser Probleme auf, um den Leser zu zeigen, womit ein Brasilianer konfrontiert wird. Und nicht nur er, natürlich auch alle Ausländer, die hier wie ich wohnen und arbeiten, oder die hier von ihrem Land aus Geschäfte machen wollen. Und diese Probleme zeigen, dass Brasilien kein Land für Schönwetterpiloten ist, hier braucht man Spezialwissen und Verbindungen, um als Geschäftsmann zu bestehen.

Das erste Problem betriff die Produktivität. In der Landwirtschaft besteht es nicht, wohl aber in der Industrie. Dazu schreibt der ESTADÃO in seiner Ausgabe vom 2.10.23: "In den 1970er Jahren lag die Produktivität Brasiliens bei 55 % der Produktivität der Vereinigten Staaten - ein Maßstab für die brasilianische Wirtschaft. Das war der Zeitpunkt, an dem Brasilien der Produktivität der USA am nächsten kam. Heute liegt die Produktivität bei etwa 20 Prozent, und die Investitionen in der verarbeitenden Industrie machen nur 2,6 Prozent des BIP aus, verglichen mit den 4,6 Prozent, die nötig wären, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen."

Wenn diese Zahlen stimmen und es gibt keinen Grund, sie zu bezweifeln, dann hinkt Brasilien hoffnungslos hinterher. Denn mit anderen Worten, in Brasilien benötigen wir heute fünf Menschen, um das zu produzieren, was ein US-Amerikaner alleine schafft. In den 1970er Jahren waren es "nur" zwei, der Abstand hat sich also mehr als verdoppelt, anstatt kleiner zu werden.

Dass es auch anders geht, selbst in Brasilien, zeigt die Landwirtschaft. Im Juni 2022 veröffentlichte das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (Ipea) eine Studie, aus der hervorgeht, dass die Produktivität der brasilianischen Landwirtschaft zwischen 1975 und 2020 um 400 % gestiegen ist. In dem Artikel wird u.a. dies betont: "Im Rahmen der Untersuchung wurde die Gesamtfaktorproduktivität (TFP) in der Landwirtschaft analysiert, die sich aus der Beziehung zwischen den Produkten und dem Index der verwendeten Inputs ergibt. Die betrachteten Produkte umfassen insgesamt 75 Positionen, darunter Zwischen- und Dauerkulturen, tierische Erzeugnisse und Schlachtkörper. Als Inputs wurden Flächen (Acker- und Weideland), landwirtschaftliche Maschinen, Arbeitskräfte, Düngemittel und Pestizide berücksichtigt. Während des untersuchten Zeitraums betrug der Anstieg des Produktindexes 87 %, während der der Inputs 13 % betrug, so dass die TFP etwa 400 % betrug. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung war die herausragende Stellung der brasilianischen Produktivität im Verhältnis zum weltweiten Produktivitätswachstum, insbesondere seit den 2000er Jahren. Zwischen 2000 und 2019 wuchs die brasilianische TFP beispielsweise um rund 3,2 Prozent pro Jahr, während der Weltdurchschnitt bei 1,7 Prozent lag. Die Autoren der Studie betonen die Bedeutung der Technologie für die Steigerung der brasilianischen Agrarproduktivität."

Da können die brasilianischen Industriellen sich nur fragen: Onde Foi Que Eu Errei? Was habe ich falsch gemacht?

An der politischen Präsenz kann es nicht liegen, denn die Gemischte Parlamentarische Front für die Industrie hat bisher 290 Abgeordnete und Senatoren zusammengebracht. Ihr Pendant, die Parlamentarische Front für Landwirtschaft, umfasst 216 Abgeordnete und 17 Senatoren. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen der Industrie und der Landwirtschaft in Brasilien, denn die Landwirtschaft investiert seit vielen Jahren gewaltige Summen in F&E und Mechanisierung, während die Industrie jedes Jahr weniger investiert. Trotz der strategischen Rolle des verarbeitenden Gewerbes machten die Investitionen im Jahr 2021 nur noch 12,9 % der Gesamtinvestitionen in Brasilien aus. Der höchste Wert wurde 2007 erreicht und lag bei 21 Prozent. Eine Studie der FIESP zufolge sind über einen Zeitraum von sieben bis zehn Jahren jährliche Investitionen in Höhe von 4,6 % vom BIP erforderlich, um die Produktivität der 1970er Jahre wieder zu erreichen! Diese Seite aus der Studie zeigt die gemachten Investitionen im Verhältnis zur Gesamtinvestition in % von 1996 bis 2021:

Ein Grund, den die Industrie für die sinkenden Investitionen durch ihre Interessenvertreter beim CNI und den Landesindustrieverbänden wie FIESP, FIERGS etc. berechtigterweise immer wieder anführt, sind die hohen Importkosten. Wer heute in Brasilien eine Maschine importiert und es ähnliche auch aus brasilianischer Produktion gibt, d.h. es ist keine Zollermäßigung per ex tariff möglich, zahlt auf den CIF-Wert des Importes ca. 65% Steuern, Abgaben und Gebühren für die Verzollung. Dazu noch der Hinweis, CIF bedeutet hier, dass auch die Transportkosten beim Import besteuert werden! Und wie diese sich entwickelt haben, wissen auch alle. Und wir wissen, dass in den meisten Fällen die brasilianischen Maschinen nicht die Produktivität, die Qualität und die Zuverlässigkeit der importierten erreichen. Also gibt sich die Industrie aus Kostengründen mit der zweitbesten einheimischen (oder chinesischen) Lösung zufrieden und damit auch mit einem hinteren Platz auf der Weltrangliste der Produktivität. Und damit man trotzdem weiterhin Waren im Lande absetzen kann, wird alles versucht, den ausländischen Wettbewerb fernzuhalten, zum Beispiel über unsinnige local content - Vorschriften oder Ausschluss von Importmaschinen von subventionierten Finanzierungen durch die staatliche Entwicklungsbank.

Lula und sein Vizepräsident und Industrieminister Alckmin haben ein riesiges Investitionsprogramm angekündigt, um die von ihnen Neoindustrialisierung genannte Wiederbelebung der brasilianischen Industrie zu erzwingen. Aber dafür ist kein Geld da, also muss die private Wirtschaft die meisten Investitionen mit eigenen Mitteln stemmen. Aber bis jetzt ist es bei großspurigen Ankündigungen geblieben, den vielen Worten sind wie üblich keine Taten gefolgt. Und die erklärte Abneigung Lulas gegen Privatisierung tut ein Übriges. Alckmin hält sich zur Privatisierungsfrage zurück, wahrscheinlich fürchtet er den Vorwurf, "Volkseigentum" zu verschleudern.

Kein Unternehmer wird sich auf Investitionen einlassen, wenn dies ohne Rechtssicherheit über Konzessionen gehen sollte. In der Vergangenheit wurde immer wieder versucht, wenn ein Unternehmer mit einer Konzession gutes Geld verdient hatte, die Spielregeln zu ändern und die "schmutzigen" Gewinne zu reduzieren.

Dabei hat die Privatisierung des Telekommunikationssektors dafür gesorgt, dass es heute in Brasilien mehr Mobiltelefone als Einwohner gibt und dass Festnetzanschlüsse keine Luxusware mehr sind, auf deren Einrichtung man 10 Jahre warten muss. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ein Mitarbeiter von mir mehr Geld mit dem Vermieten seiner Festnetzanschlüsse verdiente als mit seiner Angestelltentätigkeit. Und dass die Autobahnen im Bundesstaat São Paulo die besten Brasiliens sind, liegt an der Vergabe von Konzessionen an Betreiber, die Maut einnehmen und investieren.

Den Tag der deutschen Wiedervereinigung feierten die Einwohner der Stadt São Paulo nicht, sie hatten ganz andere Sorgen. Denn die Gewerkschaften hatten zum Streik bei U- und S-Bahn und den Wasserwerken Sabesp aufgerufen, um damit gegen die vom Ministerpräsidenten des Bundeslandes beabsichtigte Privatisierung zu protestieren. Mit zum Streik trug mit Sicherheit bei, dass dieser Minister im Bundeskabinett von Bolsonaro war, also ein rotes Tuch für Gewerkschaften und Linksparteien. Die einzigen Linien, die den Transport aufrechterhielten, waren übrigens die bereits privatisierten.

Die Privatisierung ist das zweite Problem, welches ungelöst ist. Ohne diese werden etliche staatliche Unternehmen wie die gerade erwähnten kein Geld für Investitionen haben, weil sie ihre Einnahmen zum größten Teil für die eigenen Mitarbeiter ausgeben. Und die Gewerkschaften hoffen natürlich, mit der Unterstützung von Mitarbeitern von staatlichen Firmen, die oft wesentlich mehr verdienen als in vergleichbaren Positionen der Privatwirtschaft, unkündbar sind und natürlich viel höhere Ruhestandsbezüge beziehen, wieder ihre Zwangsbeiträge von allen Arbeitnehmern zu gewinnen, die sie im Zuge der Reform des Arbeitsrechtes verloren hatten.

Es gibt viele weitere Probleme, die nur ein Pragmatiker wie Alexander der Große lösen kann. Ein weiteres, welches einen eigenen Beitrag verdient, ist die Steuerreform. Diese wird bereits vor ihrer endgültigen Verabschiedung immer mehr verwässert. Anstatt eine Ideallösung anzustreben, begnügt man sich mit faulen Kompromissen, wohl wissend, dass in Kürze weitere Steuerreformen nötig sein werden. Eine Übergangslösung mit ihren vielen Ausnahmen riecht verdächtig nach einem permanenten Provisorium. Das ist unter dem Namen jeitinho in Brasilien wohl bekannt und Schuld daran, dass sich nichts grundlegend ändert.

PS: Noch ein Wort zur erwähnten "chinesischen Lösung", die hier als Synonym für minderwertig benutzt wird. Das ist so pauschal sicher nicht mehr gerechtfertigt und in naher Zukunft noch viel weniger. Man lese zu diesem Thema den Artikel in der FAZ:







Mario Eisenhut

⚓️ Nordfriesland "Navigating Trust and Commitment: Anchoring Your Success with Responsibility and Reliability"

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