Die «Garantieabnahme»: Grundsätzlich die letzte Gelegenheit für Mängelrügen
Wird in Bauwerkverträgen die SIA-Norm 118 für anwendbar erklärt, so können Mängel – in Abweichung von Art. 367 und 370 OR – bis zum Ablauf der zweijährigen Rügefrist grundsätzlich jederzeit gerügt werden (Art. 172 f. der SIA-Norm 118).
Voraussetzung ist allerdings, dass die entsprechenden Mängel nicht nach Art. 163 der SIA-Norm 118 genehmigt sind (vgl. dazu meinen früheren diesbezüglichen Artikel). Und Mängel, welche zur Vermeidung weiteren Schadens unverzüglich behoben werden müssen, sollten umgehend gerügt werden, denn andernfalls hat der Besteller den weiteren Schaden selbst zu tragen.
Nach Ablauf dieser zweijährigen Rügefrist erlischt das Recht des Bestellers, vorher entdeckte Mängel oder offensichtliche Mängel zu rügen (Art. 178 der SIA-Norm 118).
Für verdeckte Mängel, d.h. Mängel, welche erst nach Ablauf der Garantiefrist (aber noch im Rahmen der Verjährungsfrist) entdeckt werden, haftet der Unternehmer zwar noch, aber nur sofern sie a) vom Besteller sofort nach der Entdeckung gerügt werden, und b) sofern der Besteller diese Mängel nicht schon bei der gemeinsamen Prüfung (Abnahmeprüfung) hätte erkennen können, ausser der Unternehmer habe die Mängel absichtlich verschwiegen (Art. 179 der SIA-Norm 118).
In der Praxis wird daher vor Ablauf der zweijährigen Rügefrist meist eine gemeinsame «Garantieabnahme» (die Schlussprüfung gemäss Art. 177 der SIA-Norm 118) durchgeführt. Dabei nehmen Unternehmer und Besteller zur Beweissicherung eine gemeinsame Prüfung des Werks (oder Werkteils) vor und halten in einem von beiden Parteien unterzeichneten Protokoll den Zustand des Werks im Zeitpunkt der Prüfung fest.
Empfohlen von LinkedIn
Soweit dieses Protokoll einen Werkmangel festhält, steht fest, dass er vor Ablauf der Rügefrist erkannt wurde, und gleichzeitig wird damit eine natürliche Vermutung begründet, dass dieser Mangel auch gleichzeitig gerügt wurde. Wird ein später behaupteter Mangel im Protokoll nicht erwähnt, begründet dies eine natürliche Vermutung, dass der Mangel nicht erkannt wurde und bei der Schlussprüfung auch nicht offensichtlich war.
Nimmt der Unternehmer an dieser Schlussprüfung nicht teil oder unterzeichnet er das Protokoll nicht, so führt dies nicht zu einer Verlängerung der Rügefrist. Es empfiehlt sich in diesen Fällen, die Bestandesaufnahme trotzdem (gegebenenfalls ohne Mitwirkung des Unternehmers) vorzunehmen, und ihm anschliessend das Protokoll mit einer expliziten Rüge der Mängel nachweislich noch vor Ablauf der Rügefrist zuzustellen (vgl. dazu meinen früheren Artikel Anforderungen an Mängelrügen im privaten Baurecht).
So oder anders empfiehlt es sich, die Schlussprüfung rechtzeitig vor Ablauf der Rügefrist zu terminieren, um genügend Vorlauf zu haben.
Nach Behebung der gerügten Mängel findet eine Abnahme des instand gestellten Teils statt, mit welcher für den instand gestellten Teil die Rügefrist neu zu laufen beginnt (Art. 176 der SIA-Norm 118).
Michael Wolff, 20.08.2024