Hast du keinen Respekt ?

Hast du keinen Respekt ?

Vor 10 Jahren fiel der gut merkbare 11.11.11 auf einen Freitag. Und an diesem normalschönen Herbsttag fuhr ich auf dem Fahrrad auf dem Rückweg von einem Termin am späten Nachmittag nach Hause. Zumindest war dies mein Plan - doch es sollte anders kommen.

Und auch wenn dieser Tag einen scheinbaren Wendepunkt darstellte, dann lag der eigentliche Wendepunkt, an dem die Talfahrt begann, vermutlich schon über 6 Monate zurück. Denn ( für mich ) ganz unmerklich hatte ich einen Kampf begonnen, der aus heutiger Sicht betrachtet nicht nur schier ungewinnbar, sondern tatsächlich ungewinnbar war.

Aber Moment ... ungewinnbar ? Gibt´s nicht !

Ich will sehen, was passiert, wenn ich nicht aufgebe !
Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. • Bertolt Brecht
Steinige Wege führen oft zu den schönsten Orten.
Es gibt Berge, über die man hinübermuss, sonst geht der Weg nicht weiter. • Ludwig Thoma

Die Liste der potenziellen Mutmachzitate ist fast unendlich. Und wer nicht frohen Mutes mit einem growth mindset gerüstet sich in die Wachstumszone stürzt, um sein Selbstoptimierungspotenzial vollends auszuschöpfen, macht sich potenziell der Bequemlichkeit - wenn nicht fast der Minderleistung - schuldig.

Vor 10 Jahren habe ich mich der Respektlosigkeit schuldig gemacht. Der Respektlosigkeit gegenüber meiner Grenzen. Mit 35 Jahren und einem ganz klaren Gefühl von Unsterblichkeit habe ich mich in meinem damaligen Unternehmen in eine ausweglose Situation mit meinem damaligen Geschäftspartner begeben. Mit dem Wissen von heute über mich und psychodynamische Konzepte ( bspw. die dunkle Triade ) war von Anfang an klar, dass dieser "Kampf" nur einen Gewinner haben wird - und ich werde es nicht sein.

Doch ausgestattet mit unendlicher Energie, Unsterblichkeit, Mutmachzitaten, dem berüchtigten growth mindset, der Fähigkeit, in Herausforderungen Wachstumschancen zu sehen, uvm. habe ich mich in diesen Kampf geworfen. Etwas was ich auch heute immer wieder feststelle - und ich bekenne - auch heute manchesmal wiederhole.

Ich gehe über meine Grenzen. Ich respektiere nicht die Grenzen meiner Kraft. Und die Grenzen, von dem was möglich ist.

Und natürlich sind wir - inspiriert von Elon Musk oder Thomas Edison und vielen anderen - völlig fasziniert, von den Menschen, die hunderte und tausende Rückschläge ertragen und überstanden haben, um am Ende als strahlende Sieger dazustehen. Das sind die Geschichten, die wir in unserem Selbstoptimierungswahn hören wollen, um Schwung zu holen ... nochmals Anlauf zu nehmen. Und das ist auch völlig in Ordnung - wenn du dir sicher bist. Denn auf den einen Thomas Edison kommen hunderte von verarmten verzweifelten Erfindern in dieser Epoche, die es nur ins Armengrab und nicht zu Wikipedia geschafft haben.

1972 veröffentlichte der Club of Rome den bekannten Bericht "Grenzen des Wachstums". Gelten diese vielleicht auch für uns Menschen ganz persönlich ?

Für mich vor 10 Jahren auf jeden Fall nicht. Oder ... um es mit Mark Twain zu sagen ... als ich das Ziel aus den Augen verlor, ver-x-fachte ich meine Anstrengungen. Und als ich nicht vorwärtskam, war ganz klar ... ich habe mich einfach nicht genügend angestrengt. Also noch mehr Energie. Noch mehr Anlauf. Noch mehr aushalten. Noch mehr wagen. Und plötzlich kommen in diesen "Lösungstunnel" noch weitere Aspekte zum Tragen. Aus dem Projektgeschäft kennen wir die "sunk cost". Ich spürte die "sunk lifetime", die "sunk energy" und die "sunk nerves". Jetzt erst recht. Nachdem ich nun soviel schon investiert habe. Aufgeben war keine Option. Ich ignorierte jede Grenze. Jedes Warnsignal. Zuerst die von Menschen, die mich umgaben ( DIE hatten ja alle keine Ahnung, was ICH alles kann ! ). Dann die meines Körpers ( jetzt stell dich nicht so an ).

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Bis zum 11.11.2011.

An diesem Tag hatte meine energetische Talfahrt ein Ende.

Auf meiner Heimfahrt wurde es plötzlich schwarz. Ich fiel bewusstlos in voller Fahrt vom Rad. Und hatte zweimal Glück, da ich ( ja ohne Helm ) ohne jede Schutz- und Abrollmöglichkeit nicht nur nicht nach rechts mit dem Schädel auf den Bordstein fiel, sondern nach links ... und dies auch noch in eine zufällige Lücke im fließenden Verkehr.

Und da war sie - die Grenze, die ich nun nicht mehr ignorieren konnte.

Am 12.12.11 verließ ich das Unternehmen - völlig entkräftigt, seelisch und körperlich ausgezehrt. Und selbst in diesem letzten Gespräch hörte ich noch eine kleine leise Stimme, die mir "Mut machen wollte" und flüsterte "Wenn du dich jetzt einfach kurz ausruhst und dann einfach nochmal ...".

Das HRperformance Institut und auch ich ganz persönlich stehen für das Thema Potenziale. Und ich will diese sehr persönliche Geschichte teilen, um mich - und auch gerne dich - daran zu erinnern, dass es vielleicht da draußen Grenzen gibt.

Eigene Grenzen, über die ich und du "drübergehen" - und zwar manchesmal einfach nur, "weil wir es können" und nicht als bewusste Willensentscheidung für ein Ziel.

In meinen Vorträgen zitiere ich gerne "Wer Scheitern nicht einkalkuliert, darf mit Erfolg nicht rechnen." - aber tun wir dies wirklich ?

Ist "Scheitern" wirklich möglich ? Ist "etwas nicht schaffen" wirklich eine valide Option ? Und zwar nicht nur als "life hack" - Mentalzauberei ... sondern wirklich wirklich ? Oder sind wir - berauscht von den Möglichkeiten und getrieben von Selbstoptimierungsphantasie - im "anything goes" - Modus ?

Denn vielleicht ist die tatsächliche Lernherausforderung, genau diese heutige Wachstumsgrenze zu spüren und zu respektieren. Auch wenn dies in der Konsequenz bedeutet, die eigene Endlichkeit und Begrenztheit zu spüren - was in der Tat unangenehm sein kann.

Dies ist kein Plädoyer für das Aufgeben - sondern ein Plädoyer für das Hinterfragen. Für den Moment des Innehaltens, um zu prüfen, ob ich wirklich sicher bin, wieviel Kraft und Lebensenergie ich in dieses aktuelle Ziel oder diesen aktuellen Weg investieren möchte.

Die Natur macht es uns vor. Genügend eindrückliche Fotos zeigen, dass wenn ein Baum auf einen Laternenmasten trifft, er nicht wieder und wieder versucht "durch diesen durchzuwachsen" ( und dabei am Ende zu verkümmern ), sondern um den Laternenmast herumzuwachsen. Diese eine Grenze zu akzeptieren - und dafür die Energie in zielführendere andere Wachstumszonen zu lenken.

Und vielleicht geht es auch manchmal darum, die Grenze von der anderen Seite zu überschreiten. Nicht über die Grenze zu gehen - sondern wieder hinter die Grenze. Um Kraft zu sammeln. Energie zu tanken. Einen neuen Weg zu finden.

Statt ... Ich will sehen, was passiert, wenn ich nicht aufgebe!
Ein ... Ich will sehen, wie ich wachse, weil ich weise aufgebe.


Statt ... Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Ein ... Wer gewinnbare Kämpfe kämpft, kann verlieren. Wer nicht gewinnbare Kämpfe beendet ... hat morgen eine neue Chance. 


Ein ... Steinige Wege führen oft zu den schönsten Orten.
Ergänzen um ... , wenn du dir wirklich sicher bist, dass du dorthin willst - go for it !


Ein ... Es gibt Berge, über die man hinübermuss, sonst geht der Weg nicht weiter.
Ergänzen um ... oder du nimmst dir gerade nochmal einen Moment für einen Blick auf die Karte :)

Eine Sache mag ich noch ergänzen. Eine Sache ist der respektvolle Umgang mit unseren Grenzen. Hinzu kommt der respektvolle Umgang mit den möglichen Grenzen unseres Umfeldes. Denn manchmal können wir nicht nur die eigene aktuelle "Begrenztheit" nur schwer ertragen - sondern auch die in unserer Partnerschaft, unserem Team, unserem Unternehmen und Umfeld. Und im Gegenzug auch zu sehen, wie dein Umfeld mit deinen Grenzen umgeht ... wieviel Respekt es vor deinen Grenzen zeigt.

In diesem Sinne wünsche ich dir gute "Grenzerfahrungen" und Weisheit - bevor dir eine Grenze auf die harte Art und Weise aufgezeigt wird ...


Jessica Bucher

Helping people and organizations grow beyond their limits

3 Jahre

Wow, Danke für diesen eindringlichen Artikel Stefan, löst definitiv einen Denkprozess bei mir aus.

Lukas Fütterer

Organizational Consultant Metaplan. Founder MountainMinds. Host ESPACIO Ayampe.

3 Jahre

Manche Texte lohnen zweimal gelesen zu werden. Damit beim zweiten Mal die eigene Reflexion tiefer gehen kann. Danke lieber Stefan, du beschreibst ein mir sehr vertrautes Verhaltensmuster und zeigst Alternativen 🙏

Harald Schirmer

Manager Digital Transformation, Organizational Development

3 Jahre

Ich freue mich auf die Zeit, in der wir keinen Mut mehr brauchen, offen das auszusprechen, was uns wirklich bewegt - danke Stefan dass Du mit Deinem Vorleben dafür sorgst!

Schulz Eberhard

Project Director Turnaround at Robert Bosch GmbH

3 Jahre

Wow, ein neues Beispiel für die Analysen voller Offenheit und Tiefgang, die ich von Dir so sehr schätze! Das rührt an alte Wunden. In meiner ersten Verantwortung als Abteilungsleiter hat die für mich zuständige Personalerin einmal zu mir gesagt: "Wenn Sie die Wahl haben zwischen der Überlastung Ihrer Mitarbeiter und der von sich selbst, dann ist es doch klar, dass Sie Ihre Mitarbeiter überlasten." Ich bin den anderen Weg gegangen und habe damals versucht, durch 14 h-Tage meine Mitarbeiter vor Überlastung zu schützen (Hilferufe nach "oben" brachten etwas anderes als die erhoffte Hilfe ...). Dieser Situation konnte ich erst entkommen, als mir ein externer Coach gesagt hatte: "Sie müssen sich selbst erlauben zu gehen." Heute bin ich etwas weiter ... aber der Drang, ständig die Extrameile zu gehen, ist immer noch präsent. Danke für den Reminder ! 🙄

Sabrina Steffan

Teamleader bei Bosch BKK | Interessiert an Inspiration & Austausch 💡

3 Jahre

Danke Stefan für das Teilen deiner Erfahrungen und den offenen Umgang damit. 🙏🏼 Den Mut haben, sich selbst das einzugestehen ist nicht immer einfach und daher umso inspirierender, deine Geschichte zu lesen. 🤓 Danke für deinen Impuls

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