11 Thesen zur Digitalisierung in der Messewirtschaft
Dass Messen heute eine digitale Komponente brauchen, ist klar. Wie diese allerdings aussehen soll, weniger. 11 Thesen, wo die Reise hingehen kann.
Die Welt der Messewirtschaft ist volatiler denn je. Nebst der ständigen Behauptung als wichtiges Instrument im Marketingmix, sind es neue Themen wie der zunehmende Ruf nach Nachhaltigkeit, politische Einflüsse, wie Streiks in der Bahn- und Luftfahrt, oder das bereits etwas mehr gesetzte Thema der Digitalisierung: Es sind gewaltige Mechanismen, die auf alle Messeveranstalter Auswirkungen haben werden oder bereits haben. Gerade bei der Digitalisierung scheint der Weg zwar da zu sein, aber noch nicht klar, wo dieser hinführt. 11 Thesen, die diesen Weg greifbarer machen.
These 1: Außer Frage: Das Produkt «Messe» muss digital erweitert werden.
Messen haben immer schon Angebot und Nachfrage zusammengebracht. Heute müssen sie dies nicht nur vor Ort, sondern auch Digital tun. Denn Besuchende, die alle 2 bis 3 Jahre auf gut Glück durch die Messehallen laufen, sind nicht länger das Ziel. Das ist aber leider auch das Einzige, was momentan klar ist. Denn bereits bei den Zielen, die diese digitalen Erweiterungen erreichen sollen, gehen die Meinungen auseinander.
These 2: Digitale Erweiterungen müssen drei Ziele erreichen: Die physische Messe verbessern (1), neue Umsatzquellen erschließen (2) und Kosten senken (3).
Das Kernprodukt von Messeveranstaltenden wird auch in Zukunft physische Messen sein. Das Hauptziel einer digitalen Erweiterung muss also sein, die physische Messe zu verbessern und zu stärken. Aber Messebudgets stehen unter Druck, das heißt, dass eine digitale Erweiterung als zweites Ziel neue Budgettöpfe erschließen muss. Wir sind überzeugt, dass Messen richtig aufgestellt sind, um neben ihrem Live-Marketing-Produkt ein Online-Marketing-Angebot zu lancieren. Damit könnten sie das allgemeine Marketing-Budget von Ausstellenden erschließen. Das letzte Ziel ist die Kostensenkung: Und diese gelingt, wenn die Veranstaltenden im Digitalen gleich denken, wie im Analogen. Mehr dazu unter These 7.
These 3: Das oberste Ziel: Mehr «Return on Time» für Besuchende.
Wenn wir über eine digitale Erweiterung nachdenken, müssen wir immer bei den Besuchenden beginnen. Wenn diese Partei ihre Ziele erreicht, nämlich die richtigen Ausstellenden zu finden, dann sind nicht nur sie glücklich, sondern auch die Ausstellenden und Veranstaltenden. Also, was muss getan werden, um die Messe für Besuchende zu verbessern? Ganz einfach: ihren „Return on Time“ erhöhen. Besuchende investieren viel Zeit in ihren Messebesuch und wollen dafür einen Return: Input zur Lösung ihrer Herausforderungen, neue Lieferanten kennen lernen, Inspiration. Dass die Messe dabei mit anderen Möglichkeiten, wie z.B. Google-Recherchen konkurriert, ist klar.
Wir haben in den letzten Jahren eine Vielzahl an Besucherbefragungen gelesen. Der „Return on Time“ von Messen scheint aktuell „OK“ zu sein. Der Grundtenor in diesen Befragungen: Die Messe war gut und es war richtig dort zu sein, aber – es ist immer das Gleiche und wenig Neues war dabei. Auf einer Messe nichts Neues zu finden, ist fast unmöglich. Also warum ist das in den Augen der Besuchenden so? Weil die Menschen nicht mehr bereit sind vor Ort zu suchen. Sie sind es gewohnt, Dinge im Internet schnell und einfach zu finden. Genau das muss eine digitale Erweiterung leisten können. Wenn wir es schaffen, dass ein Besucher zwei neue Dinge online auf der Messeplattform entdeckt und deswegen gut vorbereitet vor Ort zwei neue relevante Ausstellende besucht, wird sein „Return on Time“ von „OK“ auf „sehr gut“ steigen.
These 4: Größtes Missverständnis der Messewelt: Aussteller-Content sei minderwertig, weil werblich.
Messen müssen es also schaffen, dass Besuchende online neue Dinge entdecken, um dann diese Ausstellenden vor Ort zu besuchen. Ausstellerverzeichnisse stoßen hier aber an ihre Grenzen. Heute geht es nicht mehr darum, eine Liste von Anbietern zu Produktkategorie XYZ zu finden. Es geht darum, Lösungen für bestimmte Herausforderungen zu entdecken, z.B. „meine Firma muss nachhaltiger werden“ oder „mein Produkt muss leichter werden“. Diese Lösungen sind oft sehr komplex und teilweise unerwartet. Sie müssen erklärt werden. Dafür braucht es den Content der Ausstellenden.
Dieser Umstand ist absolut zentral. Denn nur dieser Content schafft es, dass Besuchende relevante und neue Ausstellende entdecken. Hier liegt eines der größten Missverständnisse der Messewelt. Wir hören häufig das Argument, dass Aussteller-Content werblich und damit minderwertig sei. Im Gegenteil, wenn Besuchende Aussteller-Inhalte lesen, erfüllt damit die Messe ihr Nutzenversprechen und bringt Besuchende mit Ausstellenden zusammen. Wenn Messen also den Flow: Interesse => Content => Aussteller abbilden können, wird die Messe für alle Beteiligten besser.
These 5: Schlüssel zu neuem Geschäftsmodell: Veranstaltende können auch nach der Messe einen «Return on Time» für Besuchende kreieren.
Besuchende kommen zu einer Messe, um sich mit den Themen zu beschäftigen, die sie interessieren (z.B. wie kann ich meine Produkte nachhaltiger machen). Diese Themen beschäftigen sie auch nach der Messe. Oft ist es sogar Teil ihrer Arbeit, zu diesen Themen auf dem Laufenden zu bleiben. Im Moment wird dieses Bedürfnis durch Newsletter-Abonnements relevanter Unternehmen, das Lesen von (Fach-)Magazinen, regelmäßige Besuchen von ausgewählten Webseiten oder über soziale Medien wie LinkedIn, erfüllt.
Messen können hier einen Beitrag leisten, indem sie die Neuigkeiten ihrer Ausstellenden ganzjährig aggregieren und den Besuchenden gefiltert nach ihren Interessen zugänglich machen. Mittels personalisierten E-Mail-Updates für Besuchende kann die Messe so zum «Super-Newsletter» der Branche werden. Relevante Aussteller-Inhalte werden für jede Person individuell zusammengestellt. So können Besuchende mit weniger Aufwand auf dem Laufenden bleiben – was wiederum ihren „Return on Time“ verbessert.
Und genau das ist der Schlüssel zur Lancierung eines Online-Marketing-Angebots. Denn die Ausstellenden wollen diese Menschen auch nach der Messe erreichen und haben dafür Budget. Aktuell geben sie dieses Geld nicht bei Messen aus, sondern für Anzeigen, Google-Ads oder LinkedIn-Kampagnen. Ein Umstand, der sich ändern lässt.
Empfohlen von LinkedIn
These 6: Content-Marketing-Trend: Eine riesige Opportunität für Messeveranstaltende und Ausstellende.
66 % aller Unternehmen betreiben heute Content-Marketing (Content Marketing Studie 2023, Seite 14), d.h. sie produzieren hochwertige Inhalte, die für ihre Zielgruppe einen Mehrwert generieren. Was viele Unternehmen benötigen ist Reichweite für ihren eigenen, meist teuer produzierten Content. Und genau hier liegt eine große Chance für Messen. Wenn sie es schaffen ihre Besuchenden in einer Content-Plattform zu aktivieren, haben sie auf einen Schlag eine riesige Reichweite: Zehntauschende oder gar hunderttausende von Personen einer hochspezifischen Zielgruppe. Gleichzeitig besitzen sie bereits die Geschäftsbeziehungen zu ihren Ausstellenden, die genau diese Zielgruppe erreichen wollen und können ihnen einen attraktiven neuen Kanal anbieten.
These 7: Messe-Brands eigenen sich optimal für ein Content-Marketing-Angebot.
Kaum ein Brand eignet sich besser, um ein Content-Marketing-Angebot zu lancieren, als der einer Messe. Denn der Brand steht für eine (physische) Plattform, wo Firmen ihre Neuheiten und Innovationen auf ihren Ständen selbst inszenieren, ohne dass die Messe selbst in Aktion tritt. D.h. im Kontext eines Messebrands ist Firmen-Content einfach Content. Dies verhält sich z.B. bei Fachmagazinen und Zeitungen anders. Ihre Brand steht für ihre eigenen redaktionellen Inhalte. Inhalte von Firmen stellen in diesem Kontext «Sponsored Content» dar, wodurch diese als minderwertig wahrgenommen werden.
Messen sollten daher zusätzlich zu ihrem Live-Marketing-Produkt ein Online-Marketing-Angebot lancieren, wo sie Ausstellenden und Nicht-Ausstellenden Reichweite für ihren eigenen Content verkaufen. Sie werden dadurch zu einer ganzjährigen Content-Plattformen, einem Kompendium für ihre Branche.
These 8: Ressourcen schonen: Durch die Nutzung von Aussteller-Content kann der Aufwand und die Kosten für Veranstaltende gesenkt werden.
Messehallen werden in erster Linie durch Ausstellende bespielt, nicht durch die Veranstaltenden. Und wegen diesen Ausstellenden kommen auch die Besuchenden. Im Digitalen denken Messen aber anders. Hier sehen sie sich selbst im Lead, um ihre Messewebseiten mit Inhalten zu füllen und immer umfangreichere Programme sowie Sonderzonen zu erstellen, damit sie im Vorfeld der Messe möglichst viel kommunizieren können. Ein Paradoxon, denn gleichzeitig hören wir von fast allen Veranstaltenden, dass sie Ressourcenprobleme haben und die Besuchermobilisierung immer aufwändiger wird.
Dieses Problem lässt sich lösen, wenn Messen online gleich denken, wie offline und ihren digitalen Auftritt nicht selbst, sondern von ihren Ausstellenden mit deren Content bespielen lassen. Dieses Umdenken könnte viele Ressourcen frei machen, die wiederum in die Weiterentwicklung der Formate investiert werden können. Und es bietet einen weiteren Vorteil: Ausstellende, die sich rechtzeitig mit Content befassen, werden automatisch die richtigen Botschaften auch in ihre Standauftritte einfließen lassen.
These 9: Weniger ist mehr: Messen sollten Ausstellende und Besuchende nicht überfordern.
Viele digitale Lösungen scheinen der Logik «mehr ist mehr» zu folgen. Die Konsequenz: Eine unglaubliche Fülle an Features für Besuchende und Ausstellende. Was dabei vergessen wird: die meisten Features haben «Marktplatz-Charakter», d.h. sie haben an sich keinen Wert, sondern erst, wenn eine kritische Anzahl auf beiden Seiten das Feature nutzt. Dies ist bei der Fülle an Möglichkeiten häufig nicht der Fall, mit dem Resultat, dass alles unter der kritischen Schwelle bleibt und damit fast gar nicht genutzt wird. Wir sind daher der festen Überzeugung: Weniger ist mehr! Messen sollten sich auf wenige Features fokussieren, welche auch wirklich genutzt werden und somit Mehrwert generieren. Ein weiterer Vorteil: Die Komplexität und der Erklärungsbedarf für alle Beteiligten sinken.
These 10: Der wichtigste KPI: Der generierte Marketing-Value für Ausstellende.
Das oberste Ziel im Digitalen muss gleich dem auf der physischen Veranstaltung sein: Möglichst viele und möglichst wertvolle Interaktionen zwischen Besuchenden und Ausstellenden zu schaffen. Das Schöne am Digitalen ist, dass sich das alles quantifizieren lässt. Wenn beispielsweise Besuchende auf der Messewebseite einen Link eines Ausstellenden anklicken und dessen Webseite besuchen, erzeugt das einen Wert. Um diese Besuche beispielsweise auf anderen Kanälen, wie LinkedIn, Google Ads und Co. erzeugen zu können, müssen Unternehmen Geld ausgeben.
Das heißt also, dass sich für jede Interaktion Benchmark-Values ansetzen lassen und daraus berechnet sich ein hypothetischer Marketing-Value. Dieser Marketing-Value sagt aus, wie viel Ausstellende auf einem anderen Kanal ausgeben müssten, um die gleiche Zielgruppe gleich intensiv zu erreichen. Es ist also ein quantifizierbarer Wert, den eine Messe online generiert. Wir sind überzeugt, dass die Bestrebungen von Messegesellschaften darauf abzielen sollten, diesen Marketing-Value zu erhöhen. Denn wenn sie genug Wert für ihre Ausstellenden generieren, schaffen sie es diesen zu kommerzialisieren und in Umsatz zu verwandeln.
These 11: Gemeinsam erfolgreich: Verschiedene Veranstaltende entwickeln sich gemeinsam weiter.
Alle bisherigen Thesen zeigen, dass die Anforderungen an digitale Erweiterungen steigen. Die meisten Messeveranstaltenden werden es sich nicht leisten können, die benötigten Lösungen selbst zu entwickeln – so wie die meisten Veranstaltenden auch ihr Ticket-System oder ihre Planungslösung nicht selbst entwickeln. Der Großteil wird sich also für eine am Markt angebotene Lösung entscheiden. Zwei Dinge sind dabei erfolgsentscheidend: Erstens brauchen Messen nicht bloß eine Softwarelösung, sondern verschiedene darauf abgestimmte Dienstleistungen. Diese müssen sauber ineinandergreifen – ansonsten wird eine Plattform nicht nachhaltig erfolgreich sein.
Zweitens, glauben wir, dass eine digitale Erweiterung das Produkt «Messe» grundlegend verändern wird. Es wird nicht mehr nur aus einer physischen Veranstaltung bestehen, sondern gleichzeitig auch eine digitale Komponente besitzen. Dies bedeutet, dass es nicht einfach darum geht, eine Software auszuwählen und zu implementieren, sondern dass sich viele Prozesse und Geschäftslogiken verändern werden. Messeteams werden beispielsweise mit Ausstellenden nicht mehr nur über ihren Standauftritt, sondern auch über ihr Online-Marketing sprechen müssen. Dies bedeutet einen „Change Prozess“ und wird eine Vielzahl von Fragen und Herausforderungen aufwerfen. Wir sind überzeugt, dass es Communities von Messeveranstaltern geben wird, die auf die gleichen Lösungen setzen und diese gemeinsam weiterentwickeln werden. Um so gemeinsam, die besseren Antworten auf all diese Fragen zu finden.
MesseMensch • Scrum Master • Innovation Lab Technician • Business Model Architect • Customer Success Manager
8 MonateVielen Dank für die wertvollen Thesen. Man merkt, dass eine Menge praktischer Erfahrung und Reflexion dahinterstecken. Und sie regen mich zum Nachdenken an. Ein Impuls, ist etwa, dass wir - gerade wenn es um Digitalisierung geht - Messen gerne generalisieren. Ich versuche es mit einem Bild: Fahrzeuge. Darunter fallen Schneemobile, Panzer, Cabrios, Traktoren, Rennwagen u.v.m. Die Use Cases dazu sind noch vielfältiger, erst recht die Nutzenerwartungen. Ich behaupte, dass Messen mindestens ebenso vielfältig und daher gar nicht (so leicht) generisch zu erfassen sind. Das macht deine Thesen freilich nicht weniger hilfreich. Ein weiterer Impuls rührt vom Selbstverständnis her: Limitieren wir uns am Ende nicht doch, wenn wir uns "nur" als Messeveranstaltende verstehen? Wenn wir unser Angebot konsequent vom Kundenbedürfnis her denken, dann ist das Präsenz-Event vielleicht gar nicht so sachlich-nüchtern vom Suchen und Finden bestimmt, sondern von der Freude am Trubel, am Dabeisein (etwa wie bei der OMR)? Mich persönlich elektrisiert der Ansatz, unser Geschäft vom Digitalen und dabei vom User her zu denken und gelernte Terminologien wie Ausstellende, Besuchende, mal beiseite zu lassen, um echte Transformation und Innovation zu erzeugen.
Medien- & Plattformproduktion | 📹🎙👨🏻💻
8 MonateGefällt mir gut 🤝🏻 Das einzige „Aber“ habe ich in These 2: Digitale Angebote / Erweiterungen müssen die physische Messe verbessern. Contentorientierung bedeutet immer auch Communityaufbau. Warum sollte es nicht auch Communitys geben, die nur digital stattfinden wollen oder bei denen das digitale Angebot der Kern ist? D.h. die physische Messe / Veranstaltung zahlt auf die digitalen Angebote ein. Digital gewinnt nach wie vor an Relevanz in allen Bereichen, muss sich da das physische Produkt nicht an der digitalen Welt orientieren? 🤓