Begegnung: Himmel oder Abgrund
«Alles wirkliche Leben ist Begegnung». Der Satz, der zu meinen Grundlagen-Sätzen gehört, stammt von Martin Buber, einem Religionsphilosophen, der 1965 starb. Doch der Satz ist aus dem Zusammenhang gerissen. In seinem Buch «Ich und Du» (erstmal 1923) schrieb er in einem der Anfangskapitel ausführlicher:
«Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwählt-Werden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. […] Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.
Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.
Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“
In der Begegnung mit «dem Du», der, dem oder den Anderen, wird das Leben, entsteht das Leben, das wir Leben nennen.
Leben ist – mit all den Dimensionen, die wir auch mit Himmel und Abgrund assoziieren – so gesehen Begegnung, Beziehung. Und viele würden dem auch heute, nach über hundert Jahren, noch zustimmen.
Dieser Beitrag ist als erster von vermutlich sieben Artikeln einer der schwierigsten Fragen gewidmet, der wir uns als Menschen stellen können, der Frage: «Was ist uns heilig»? Oder konkret: Was ist mir heilig?
Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch so etwas hat, das ihm «heilig» ist, unumstösslich, das «höchste Äusserste», wie es ein alter chinesischer Denker einmal genannt hat. Das geht vom kleinsten Käferchen, das der eine nicht zertreten will, über das «Heilixblechle» eine auto-verliebten Schwaben bis hin zu dem, den wir Gott nennen.
Oft denken Menschen heute aber: Beziehung ist an sich das Höchste. Die Social Media sind voll davon. Und ich beginne daher an dieser Stelle.
Beziehung: Himmel und Abgrund gleichermassen?
Denn «heilige Beziehungshaftigkeit», ist «Beziehung» wirklich der höchste Wert, den wir haben? Ist «Beziehung» damit schon das Heilige, dem wir höchsten Wert beimessen?
Denn Vorsicht: Beziehung kann «Himmel» sein, aber auch Abgrund, Trauma und Tod. Zu dem Mündungsrohr einer auf mich gerichteten Waffe stehe ich notwendigerweise in einer potentiell letalen Beziehung.
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Beziehung ist, verkürzt gesagt, eine im Grunde formale Bestimmung. Darum schreibe ich diese Artikel-Serie über die «sieben Beziehungs-Ebenen» unseres Lebens. «Beziehung» muss neben der Aufrechterhaltung ihrer formalen Existenz (als Bedingung ihrer Möglichkeit, für allem, die es genauer wissen wollen) inhaltlich gefüllt sein.
Oder: Beziehung braucht Inhalt, Beziehung braucht Bedeutung, um bedeutungsvoll zu werden. Und in diesem Raum des Bedeutungsvollen müssen, dürfen, sollen unsere Beziehungen gestaltet werden. Anders: Beziehungen sind Aufgaben.
Beziehungen: Wir behalten, was wir gestalten
Im Berufsleben «pflegen» wir Beziehungen, auch im Freundeskreis, im Verein, in der Familie, oder auch in und zu der Natur, alles in den verschiedensten Formen. Wir behalten, was wir gestalten.
Und ja, Beziehungen, Begegnungen können glücklich machen. Sie können aber auch zerstören, deformieren, pervertieren etc.
Die Frage aller Fragen ist daher schon: Mit wem oder was unterhalten wir eine solche Art von Beziehung, dass wir das als völlig anders ansehen, anders als alles andere, abgesondert von allem, herausgehoben, als höchsten Wert?
Eine Beziehung alleine wird uns nicht notwendig Leben vermitteln. Es hängt alles davon ab, mit wem oder was wir solch eine Beziehung unterhalten. Und: Wir müssen, wenn wir gut leben wollen, diese Beziehung zum Guten hin gestalten.
Beide Seiten einer «höchst bedeutungsvollen» Beziehung sind aber erst zweitrangig Fragen des Glaubens oder Hoffens. Beides sind Entscheidungsfragen. So viel Autonomie ist uns gegeben.
Beziehung alleine, so mein heutiger Punkt, macht nicht notwendigerweise glücklich. Sie kann daher nicht das Allein-Seligmachende sein. Sie taugt gar nicht zum «Heilig-Sein» (was wir ja noch gar nicht definiert haben).
Mir scheint, und das als ersten Schritt zu dem hin, was uns heilig sein kann, was uns heilig sein soll, dass das, was wir dann «heilig» nennen, muss einige Bedingungen erfüllen, damit es die fundamentale Rolle spielen kann, die wir – falls wir das überhaupt noch tun – etwas «Heiligem» zusprechen. «Irgendetwas» qualifiziert sich nicht für den inneren (und evtl. auch äusseren) Ort, für die «Instanz», die wir heilig nennen. Hier müssen wir Entscheidungen treffen.
Der Prüfstein aber, ob uns wirklich etwas «äusserst wichtig» ist (ich übersetze «das Heilige» einmal so), ist aber, ob wir eine hingebungsvolle Beziehung dazu pflegen. Ob wir mit-gestalten, was wir behalten wollen. Auch hier bedarf es unserer, meist täglich zu erneuernden, Entscheidung.
Ich vermute im Stillen, so etwas – etwas «Heiliges» - hat jeder Mensch. Vielleicht ist man in der Tiefe überhaupt dadurch Mensch.
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1 MonatIch habe wenige wirkliche Beziehungen. Die wenigen sind mir wichtig und ich pflege sie. Und dann bin ich auch sehr gerne alleine.
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1 MonatHeilig - das hebräische "kadosch" meint "besonders, abgesondert sein" - im Falle des Alten Testamentes "für Gott". Es gab viel "Freunde" in meinem Leben, die sich abgewandt haben. Nur vier Menschen war unsere Freundschaft "heilig", egal welche Wege ich gegangen bin. "Heilig" ist uns oft vielleicht zu sehr das, was uns von Menschen trennt. Nicht das, was verbindet.
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1 MonatDanke Martin, für die Erwähnung und die lieben Zeilen sowie das Teilen deiner Geschichte.
Katholische Freelance Schwester⎮Psychologische Beraterin mit geistlich-seelsorgerischer Kompetenz⎮Gefängnisseelsorgerin⎮Expertin für innere Gefangenschaften⎮Farbsommelière
1 MonatWunderschön entfaltet und sehr inspirierend!