Wie gehen wir mit Macht um?
Schon wieder Corona? Nein das dachte ich nicht, als ich mich kürzlich mit der Rezeptionsgeschichte von Niccolò Machiavelli beschäftigte.
Aber als „finis coronat opus“, als „der Zweck krönt (heiligt) das Werk“, kam eine Hauptsumme seines staatstheoretischen Werkes etwa 50 Jahre nach seinem Tod im deutschsprachigen Raum an. Er selbst hat in einem frühen Italienisch geschrieben.
„Der Zweck macht das Werk zu einem königlichen Schmuck“ („corona“ ist ursprünglich ein schmückender Kranz als Zeichen der Ehre und Herrschaft), könnte man es vielleicht ein wenig verständlicher eindeutschen. Und als „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist es leicht verändert im deutschen Sprachschatz hängengeblieben.
Paradigmen einer längst vergangenen Zeit
Damals, in den 1520er Jahren ging es sowohl in der florentinischen Heimat Machiavellis als auch in der beginnenden Reformation im deutschsprachigen Raum um Macht. Die beiden Entwicklungen hingen sogar innerlich zusammen. Machiavelli war kurz vor der durch Luther angestossenen Reformation eine Zeitlang als florentinischer Gesandter und Beobachter am Hof des Kaisers gewesen. Aber das wäre nur das Äusserliche. Paradigmatisch war die Art des Gegenspielers, den beide hatten.
Denn viel bedeutender als die wenigen äusserlichen Berührungspunkte war, dass Luther und Machiavelli aus sehr verschiedenen Gründen ein und den selben machtvollen Gegenspieler hatten: Giovanni da Medici, den späteren Papst Leo X., der 1512 faktischer Herrscher von Florenz wurde und der Machiavelli foltern und ins Gefängnis werfen liess, und dessen Ablasshandel zugunsten des Petersdoms den Widerstand Luthers gegen die römische Amtskirche und ihren weltlichen Prunk geradezu auslöste. Ähnlich wurde wenig später Luther vom vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 auf der Wartburg weggesperrt («ich liess mich einthun», schrieb er selbst darüber).
Aber was war das leitende Paradigma dieser damaligen Tage?
Der Staat, so der sich an den Vorbildern des alten Rom orientierende Machiavelli nach seiner eigenen Entmachtung, braucht einen starken Führer („il principe“, so nannte er auch sein berühmtes Buch darüber), dem zum Erhalt der Staatsmacht nahezu jedes Mittel Recht sein muss. Dabei wird, vereinfacht, der Staat zum Selbstzweck.
Luther ging es zunächst nicht um den Staat, sondern um den Stand des Menschen vor Gott, den er als ein Gnadengeschenk ansah („sola gratia“, alleine durch die Gnade). Individuell bedurfte es danach, wieder vereinfacht, Busse und Umkehr und ein „Christenleben“, um das himmlische Bürgerrecht auf ewig zu erhalten. Luther tat damit das Spannungsfeld zwischen dem weltlichen Staat im Äusseren und der göttlichen Herrschaft im Innern des Menschen auf. Gottes „Zweck“ war der Mensch und seine Gottesnähe. Der Staat, als das „grosse Gegenüber“ dieses göttlichen Eingreifens in die Welt und Geschichte, blieb dabei omnipräsent.
Schwierig wurde es deshalb für Luther und einen grossen Teil der Reformatoren, als schon bald nach Beginn der offen anti-päpstlichen Reformation sich zigtausende Bauern gegen ihre bisherigen Herren wandten und – zum Teil aus purer Armut, zum Teil aus erkennbarer Zügellosigkeit – in vielen Teilen des deutschsprachigen Raumes einen Aufstand begannen, der auch die bisherige weltliche Macht in Frage stellte. Luther empfahl die marodierenden Bauern mit Gewalt „zur Vernunft“ zu bringen, was die Bauernkriege mit auslöste.
Hinzu kam der regelrechte Feldzug von Reformatoren wie Zwingli gegen die so genannten „Wiedertäufer“ z.B. in Zürich und weiteren Teilen der Schweiz. Aus den Quellen eines Simmentaler Regionalhistoriker geht hervor, dass alleine in Bern hingerichtet wurden:
Peter Stucki aus Wimmis (BE) am 16. April 1538, Peter Weissmüller aus dem selben Ort, am 17. September 1538 und Peter Anken „aus dem Siebenthal“ (Simmental) 1542. Das sind nur einige lokale Beispiele.
Auch hier schien jedes Mittel zur „Befriedung“ recht, und für viele Jahrzehnte wurden die pazifistischen Täufer immer wieder hingerichtet, ertränkt, erhängt und des Landes verwiesen.
Erst 2003 fand im Zürcher Grossmünster eine öffentliche Versöhnung mit den Nachfahren der vertriebenen Täufer statt. Und im kommenden Jahr 2025 jährt sich der Beginn der Täufer-Verfolgung zum 500. Mal, und man darf gespannt sein, welche Erinnerungskultur an diesen Jahrestagen gepflegt werden wird.
Wie Macht zu gebrauchen ist, das ist bis heute eine der Kernfragen der europäischen Kultur.
Aus einem seit langem schwelenden Anlass stelle ich hier die Frage: Wie gehen wir heute mit Macht um? Wie denken wir überhaupt darüber? Und: Ist Macht zu haben ein Wert an sich?
Die Macht im Kleinen
Aber weg vom politischen Makrokosmos, hin zu dem alltäglichen Mikrokosmos: Gesellschaftlich empören wir uns zurecht über die in den vergangenen Jahren an vielen Orten zutage getretenen Missbrauchsfälle im privaten, im versteckten, der Öffentlichkeit beraubten Rahmen.
Wir sollten uns aber nicht wundern, dass jetzt das, was Jahrzehnte verborgen war, ans Licht kommt, beginnt doch die Anwendung von Macht schon in den Familien und Lebensgemeinschaften, und das wird immer offensichtlicher.
„Macht“ kommt im Deutschen von „Machen“. Im Lateinischen („potestas“) von Können, zustande bringen, fähig sein zu. Im Zentrum des noch lange nach Machiavelli wirksamen Machtbegriffs steht das „opus“, das Werk, die Leistung, die Errungenschaft. Daher auch der einleitende Ausspruch, der Zweck kröne das Werk.
Offensichtlich ist uns auch schon im Kleinen Macht gegeben, Macht, damit uns unsere Werke gelingen, damit wir etwas zustande bringen.
Würden wir auch in den Familien immer „Machiavelli“ anwenden, wäre das eine Katastrophe: Das „Opus“, das Werk, stünde im Vordergrund und nicht die Menschen und ihre Lebensgemeinschaft.
Aber viel zu oft passiert genau das: „Man“ muss etwas erreichen, „das Kind“ muss Erfolg haben (koste es, was es wolle), und Hauptsache wir verpassen unsere Ziele nicht. Das ist nicht weit von Machiavelli.
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Doch im Ernst: Können und wollen wir Macht von einem moralisch-ethischen Verpflichtungsrahmen lösen? Geht es uns nur noch um „Zwecke“?
Und was ist dann der Mensch, wenn alles nur „den Werken“, den äusserlichen Zwecken dient?
Gesetzt den Fall, Friedrich Schiller hätte Recht gehabt, als er sagte, der Mensch sei sich selbst Zweck (und er war beileibe nicht der Erste, der so etwas sagte), dann gibt es zwei Arten von Macht: Macht, die dem „Zweck Mensch“ dient (und damit ist sehr oft „der Andere“ gemeint, wenn ich selbst Macht habe) und Macht, die abstrakten Zwecken (Staat, Geld, Betrieb oder die Ich-Sucht) dient.
Das fängt im Kleinen an. Missbrauch definieren wir z.B. in gewisser Weise als Zweckentfremdung: Kinderarbeit zum Beispiel ist in diesem Sinne Zweckentfremdung. Auch die bekannten anderen Arten von Kindesmissbrauch sind Zweckentfremdungen „mit Schadensfolge“. Und wir stufen sie als Straftaten ein.
Macht kann also gebraucht und missbraucht werden, je nach Zwecksetzung. Dann würde der Satz im Grunde doch stimmen, dass der Zweck das Werk krönt, ihm Würde gibt? Dann aber müsste es eine ethisch vertretbare Hierarchie, eine Ordnung möglicher Zwecke geben, je nachdem ein Zweck als gut oder schlecht einzustufen ist.
Macht in den Betrieben
In den gewerblichen Betrieben kollidiert dies alles: Hier gibt es eine Zweckkollision, besonders in den Betrieben. Und hier muss eine Diskussion stattfinden darüber, was legitime Zwecke eines konkreten Betriebs sind oder sein sollen. „Broterwerb“ ist das Arbeitsprinzip eines gewerblichen Unternehmens („Gewinnerzielungsabsicht“) und sein Existenzgrund. Aber was heisst das für die Menschen dort? Die „Brot-Erwerbenden“ sind im Betrieb ja kein Material, sie sind kein verfügbares Gut.
Die Diskussion darüber wirkt heute selbstverständlich, war es aber historisch nie.
Gerade in den Betrieben - wo es in vielfacher Weise um die Existenz geht - zeigt sich nämlich, ob Macht „an sich“ ausgeübt wird, ob der Schwerpunkt „nur“ auf dem Geldverdienen liegt oder ob und in welcher Weise die mitarbeitenden Menschen zu einem Zweck sui generis gemacht werden. Oder lassen sich die Dinge auch ethisch „unter einen Hut bringen“?
„Macht an sich“, das kann im betrieblichen Zusammenhang ganz deutlich zutage treten, „Macht an sich“, ist egozentrische Macht, Macht, die nur auf den „Machthaber“ ausgerichtet ist.
Macht beginnt im Unsichtbaren
Solche „Macht der Machthaber“ beginnt aber, oft aus Furcht davor, den (unheiligen) Zweck zu entlarven, oft im Unscheinbaren, im Verborgenen: Sie erscheint als Anspruch, als Ambition.
„Incipite initia“, wehret den Anfängen, sagten schon die antiken Römer. Doch woran würden wir erkennen, ob jemand Macht „an sich“ als allerhöchstes Gut hat? Ob er oder sie Macht über alles stellen würde, „wenn es zum Schwur kommt“?
Es gibt hier wirklich ein Erkenntnisproblem.
Hilfreich kann es da sein, wenn man sich im konkreten Fall immer die Frage stellt, wofür wird Macht eingesetzt. Dienst sie der Erhöhung der Mächtigen, dient sie einer angeblich unzweifelhaft „guten Sache“ oder dient sie Menschen, im Kleinen, wie im Grossen?
Dabei muss unbedingt gefragt werden, wie die Realität aussieht, und nicht nur, wie das Narrativ der Machtausübung aussieht. Denn es gilt: „An den Früchten werdet ihr sie erkennen“ wörtlich „an ihren Werken werdet ihr sie erkennen“ („Ex operis cognoscitur“, so Lateinisch im Matt.-Evangelium).
Handlungen machen die Aspiration der Mächtigen als das sichtbar, was sie sind: beides die Werke als auch die Mächtigen.
„Macht an sich“ ist nichts, wenn nicht Mächtige sie gebrauchen.
Macht im Grossen
An der Macht im Grossen sehen wir in unseren Tagen – oft mit grossem Erschrecken – wie die Macht als Instrument der Selbst-Überhöhung über Leichen geht. Nein, nicht wie in einem Krimi, in dem es vielleicht einmal 3 bis 4 Tote pro Folge gibt. Sondern über die Leichen von Hunderttausenden, die eine „Zweck“ geopfert werden.
Wohin uns solche „Zwecke“ bringen, kann man nur schaudernd erahnen. Woher solche Zwecke kommen, das könnten wir vielleicht spüren, wenn wir uns die Zeit und die Ruhe dafür nehmen. Denn es kommt bei der Machtausübung nicht darauf an, wie toll“ Macht daherkommt oder was sie alles opfern kann.
Es kommt bei der Macht darauf an, ob sie etwas dient, was uns und anderen „heilig“ ist. Was das sein kann, und wie das aussieht, wenn wir auf solche Weise „mächtig“ würden, das zu entdecken, liegt noch weitgehend vor uns.
Aber es ist ja bald „Advent“, was nichts anderes als Ankunft heisst. Gibt es Hoffnung? Und worauf?
ADHS in der Partnerschaft 🤝 Begleitung für Paare, Partner:innen & Angehörige von Menschen mit ADHS | Kommunikation verbessern, Konflikte lösen, Liebe zurückgewinnen. ⚕️Marketingberaterin für Coaching & Gesundheit
2 WochenWie immer wunderbare Worte, lieber Martin. Und ich fühle mich geehrt, darin eine Rolle spielen zu dürfen. Freue mich, den Artikel zu lesen.
Konzernbetriebsratsvorsitzende der SRH mit Leidenschaft fürs Amt und fürs Unternehmen
2 WochenVielen Dank für diese wertvollen Gedanken! Das Thema Macht bewegt mich immer wieder. Manche streben danach, anderen fällt sie zu. Wichtig finde ich, dass wir uns immer wieder reflektieren und hinterfragen, wozu gebrauche ich sie? Nicht umsonst sagt man - gib jemand Macht und du erkennst seinen Charakter. Und wenn wir uns nicht immer wieder selbst reflektieren und uns reflektieren lassen, dann meinen wir es vielleicht auch noch gut und tappen selbst direkt in die Machtfalle hinein. Daher lohnt es sich immer darüber nachzudenken wo stehe ich und wie gebrauche ich das was mir zur Verfügung steht. Zuletzt bleibt die Hoffnung, dass es Menschen gibt, die sie zum Guten einsetzen.
𝗧𝗵𝗲𝗼𝗹𝗼𝗴𝗶𝗻 I 𝗘𝗻𝘁𝘀𝗰𝗵𝗲𝗶𝗱𝘂𝗻𝗴𝘀-𝗖𝗼𝗮𝗰𝗵 Entscheidungen bestimmen das Leben: Vor welcher Entscheidung stehst du?
2 WochenIch habe hier selten einen so tief- und weitreichenden Artikel gelesen. Der aktuelle Bezug und die Fragestellung ist nicht nur relevant, sondern betrifft uns alle. Im Akt unseres Handelns und unserer Ausrichtung. Es beginnt bereits damit, worauf wir den Blick & Fokus richten... Woran hängen wir unser Herz? Wozu dient der Selbstzweck wirklich? Heiligt der Zweck tatsächlich das Mittel? Im Kontext der schnelllebigen Zielausrichtung und Oberflächlichkeit des Geistes, ist es zwingend gefragt Inne zu halten. Besonders hier auf SoMe... #Verantwortung #BewusstSein #MenschSein
Weisheit lernen: Gelassen werden, Krisen meistern, Ruhe finden
2 WochenZuviel der Ehre, dass du mich in diesem Zusammenhang erwähnst. Vielen Dank für deinen des nachdenkenswerten Artikel.
Katholische Freelance Schwester⎮Psychologische Beraterin mit geistlich-seelsorgerischer Kompetenz⎮Gefängnisseelsorgerin⎮Expertin für innere Gefangenschaften⎮Farbsommelière
2 WochenMartin Natterer Danke, lieber Martin, für deine wunderbare Ermutigung!