Familie und Ökonomie
"Familie“ ohne „Haushalten“ funktioniert nicht gut. Und die Ökonomie wird in dem Beziehungsfeld, das wir "Familie" nennen oft schlimm unterschätzt. Und da sich in einer Familie, einem Haushalt, fast alle Beziehungsebenen unseres Leben überschneiden und ineinander verflechten, müssen wir immer die Frage klären:
Welche Beziehungen haben wir, pflegen wir in einer, nein, in unserer Familie? Dazu müssen wir klären, was wir - und gerade "konkret wir" - unter einer Familie verstehen. Wie immer geht es "vorne" los:
Unser heutiges Familienbild, zumindest im deutschsprachigen DACH-Raum, ist sehr stark geprägt von der bürgerlichen Kleinfamilie, wie sie zuerst in den Städten der ausgehenden Renaissance ("Bürgertum“) und dann in einer zweiten Welle in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts entstanden ist.
Dabei ist hier nicht der Raum, etwaige „Vor- und Nachteile“ dieses Familienbildes zu diskutieren.
Das ist hinlänglich bekannt und hat auch etwas Triviales. Familien werden – fast quer durch alle Kontinente und Kulturen – verehrt und verteufelt gleichermassen, kritisiert und verteidigt, als Idyll idealisiert und als Gefängnis verabscheut.
Auch dafür möchte ich hier keinen Raum geben. Aber für das Folgende will ich „eine Lanze brechen“:
Langfristig braucht "Familie" eine gesunde, mit allen abgestimmte Ökonomie
Diesen Aspekt des Familien-Begriffs möchte ich hier aufgreifen, der in unserem modernen Familienbild immer wieder „weg-retuschiert“, dann aber auch wieder „überzeichnet“ wird: Es ist der der Ökonomie.
Erst jetzt, in den vergangenen Jahrzehnten, seit man die Rolle der Frauen in den Haushalten (und – als Gegenstück vielleicht – im Beruf) viel fokussierter wahrnimmt, kommt ein Teil dieser „ökonomischen Frage“ wieder ans Licht. Nur ein Teil aber, und das, obwohl unsere gesellschaftliche Realität etwas deutlich Anderes nahelegen sollte, nämlich den der gemeinsamen Gestaltung der "Ökonomischen Frage".
Fakt scheint aber zu sein, dass wir speziell in den letzten zweihundert Jahren aus der „Familie“ eine „Kleinfamilie“ gemacht haben, die ökonomisch eine „Pferdefuss“ hat: „Drinnen“ wird gehaushaltet („am Herd“, das war in der Regel die Frau) und „Draussen“ wird gearbeitet, in der Regel der Mann. Zu Recht kam dafür schon im 19. Jahrhundert der Begriff „Entfremdung“ auf: Entfremdung der Arbeit vom Zuhause und dann auch die Entfremdung und Entkoppelung der Lebensentwürfe der Familienmitglieder. Eine fatale Entwicklung, die aber von den Meinungsführern forciert vertreten wurde.
Und das Allerschwierigste an diesem Zerfall des Produktions- und Lebenszusammenhangs war, dass er die inneren Beziehungen der Familie – grob gesprochen – von Nutzen-Strukturen hin zu Abhängigkeits-Strukturen hin veränderte.
Wenn man das macht, und damit auch das Thema „Macht“ entscheidend verändert, dann wird – krass formuliert – aus der Schutz-Verpflichtung derjenigen mit Macht die Missbrauchs-Ermächtigung der Mächtigen. Hunderttausende können ein Trauriges Lied davon singen.
Tausende Spielfilme, noch ein den letzten 50 Jahren, handeln die mit diesem nicht mehr lebensfähigen Familienbild verbundenen Stereotypen ab: Erst Liebe, dann Geld, dann Vereinsamung und Fremdgehen, dann Trennung, dann „verdorbenes Leben“. So in etwa.
War das immer so? Erste Frage.
Ist das heute wirklich unsere gesellschaftliche Realität? Zweite Frage.
Vom Ursprung und der Form der „Familia“
Die Antwort auf die erste Frage ist ein klares Nein. Historisch bedeutet «Familie» in unserer vorwiegend Lateinisch geprägten Tradition zunächst einmal eine Organisationsform: Gemeint ist ein Viel-Personen-Haushalt mit Bediensteten, Knechten («famuli», daher «familia») und mehreren Generationen, in dessen Zentrum die existentielle Beziehung der „parentes“, der Eltern samt ihren Kindern steht.
In Eins gehen dabei aber Gewerbe (Broterwerb) und Haushalt. Familie heisst geradezu „Haushalt“. Und so wird es auch in der antiken Parallelwelt, in der griechischen Hemisphäre, verstanden.
Dort heisst die „Familie „Oikonomia“, was schlicht „Haushalterschaft“ bedeutet: „Oikos“, das Haus, und „nemein“‚ was „zuweisen“ oder „einteilen“ bedeutet (und nicht von „nomia“, der Gesetzgebung kommt, wie J.J. Rousseau vor über 200 Jahren vermutete). „Einen Haushalt organisieren", könnte man „Oikonomia“ also übersetzen. Gemeinsam organisieren und Wirtschaften, würden wir sagen. Das war „Familia“.
Ein sehr schönes (allerdings römisches) bauliches Beispiel für die dazu notwendige Infrastruktur ist die rekonstruierte „Villa Otrang“ in der Nähe von Trier (D). Die originalgetreu rekonstruierte Anlage dürfte etwa 1800 Jahre alt sein und ist beeindruckend gross. Neben Herren- und Gesindehaus enthält sie Stallungen und - typisch römisch - ein wenig entfernt einen Tempelbezirk.
Ein wenig weiter entfernt von dieser alleinstehenden Villa, im ebenfalls schon fast Zweitausend Jahre alten antiken Xanten (bzw. der dortigen Museumsstadt), kann man sowohl das überraschend moderne Design von Möbeln und Einrichtungen als auch die Vielgliedrigkeit selbst der römischen Stadthäuser bewundern.
Dutzende, bisweilen Hunderte von Personen lebten in einem antiken „Haushalt“, in einer Lebensgemeinschaft, die gleichzeitig „cubiculum“ (Wiege), „matrimonium“ (Ehe) und „patria (Herrschaftsgebiet) war. Sie war damit aber auch Bauernhof und Gewerbebetrieb in einem. Alles gehörte zusammen.
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Es war – BWLer aufgepasst – bereits der antike Aristoteles, der evtl. erstmals den Staat als eine Art „erweiterten Haushalt“ ansah und diesem Staats-Wirtschaften den Namen „Oikonomia“ gab. Darauf geht unser Wort „Economy“ über eine lange Rezeptionsgeschichte zurück.
Wo Haushalten und Haushalt zusammengehören
Für alle Gewerbetreibenden, Familienunternehmen und bäuerlichen Haushalte ist dies aber auch - bei allen Änderungen, die die Zeit mit sich bringt, heutige gesellschaftliche Realität.
Ein Beispiel: Urs und Sylvia (Die Vornamen stimmen, Familiennamen lassen wir sinnigerweise trotz des Artikel-Themas mal weg) betreiben im Berner Oberland einen mittelgrossen Bauernhof mit Almwirtschaft, einem grossen Selbstversorger-Garten und einigem Kleinvieh. Urs ist gleichzeitig Präsident des regionalen Viehzuchtverbands und einer quasi-politischen Verwaltungseinheit, der „Bäuert“. Alle drei erwachsenen Töchter arbeiten und studieren zwar „ausserhalb“, aber alle drei übernehmen feste Verantwortung im bäuerlichen Haushalt. Und an den regionalen Viehzucht-Schauen sind treten sie alle zusammen auf. „S’Grosi“, die Grossmutter, kommt noch mehrmals die Woche zum Essen, nur wirklich mitarbeiten kann sie nicht mehr. Aber für irgendwelche Anlässe oder Arbeitseinsätze werden zusätzliche Helfer aufgeboten, die dann zur Hand gehen.
Der Hof wird auch nach Urs und Sylvia weitergehen. Wichtig: Urs und Sylvia sind offensichtlich noch nach Jahrzehnten ineinander verliebt und würde vermutlich eher ihr Leben geben, als diesen Lebensstil aufzugeben: „Es ist unser ganzes Leben“, sagt mir Sylvia schon vor Jahren.
Das ist vielerorts „Haushalt“ heute, zumindest in der Schweiz, und so ähnlich auch für die weit über 90% der KMU-Betriebe und bäuerlichen Betriebe, welche die Schweizer Gesellschaft konstituieren. Das sind „nicht Wenige“, sozusagen.
Ein eventuelles Scheitern der Ehe oder des Betriebs würde einen Untergang dieses gesamten Zusammenhangs bedeuten. Und tatsächlich kommt dies hin und wieder vor. Tatsächlich ist diese selbständige Lebensform, der Familienbetrieb, aber hoch-resilient, und er kann enorme Krisen verkraften. Dafür gibt es Hunderte von ermutigenden, aber auch erschreckenden Beispielen.
Aber im täglichen Leben ist das nicht die Kleinfamilie „aus dem Fernsehen“ (ausser ein wenig „Landfrauenküche“). Und ganz naturgemäss neigen solche Familienbetriebe und ihre Konstellationen zu hoher Konventionalität, zu Konformität und einem erheblichen Traditionalismus: Sie leben ja davon. Und das, wenn man sich das ansieht, nicht erfolglos.
Es ist aber erstaunlich, wie viel Innovationen sie andererseits auch wieder fördern, und das ist einer der Gründe, wieso gut gesteuerte Generationenübergänge lebenswichtig für Familienbetriebe sind.
In der städtischen Familie wiederum, und schon gar im deutschen Beamtentum, ist diese enge Bindung von Treue zueinander, von ökonomischer Sicht und menschlicher Gestaltungskraft stark in den Hintergrund getreten: Man „hat“ ein Einkommen, man „hat“ Geldanlagen, eine Pension, Geldanlagen, eine Versicherung oder „Ansprüche“. Und „Verpflichtungen“ existieren oft vor allem zu einem abstrakten Staat, der zudem zwar "insgeheim", aber doch immer mehr als feindlich und versagend angesehen wird. Haltlosigkeit droht.
Für all das arbeitet man zwar in der tendenziell vereinsamten Kleinfamilie schon auch aufopferungsvoll, aber oft sind es eben „Jobs“ und keine verpflichtenden Lebensformen, auf die "man und frau" sich da einlassen. Und so kommt es leicht zu leichtfertigen „Entkopplungen“ von Lebens- und Erwerbs-Wegen, von Zielen, Visionen und Plänen. Und die „Haushalte“ scheitern dann meist als Ganzes. Einer, oder beide, gehen, und nichts geht mehr.
Familie: Reflexions-Ebene des ganzen Lebens
Wir können freilich, wenn wir „Städter“ sind, nicht einfach aufs Land zurück. Das würde gar nichts ändern. Es geht nicht um den Wohnort, es geht schon gar nicht um das Idyll oder eine abstrakte „Natur“.
Aber es geht um Selbstbestimmung eines Haushalts, eines Familienzusammenhangs, es geht um unsere Beziehungen zueinander und zu den Aufgaben und Verpflichtungen, die wir übernommen haben.
Denn schon Familienunternehmen sind „ein ganz anderes Ding“, als wenn jede und jeder seinem Teilzeit-Job in einer Teilzeit-Beziehung nachgeht. Aber wir haben alle kein „Teilzeit-Leben“, auch wenn temporäre Beschäftigungen oft gerade den bäuerlichen Betrieben ungeheuer viel nützen.
Also: Wenn man sich „einfach so, mal schnell“ selbständig macht, ohne darin Erfarhungen und Vorbilder zu haben, ohne Hilfestellungen und Anleitungen zu haben, dann kann das die "kleinen Familien" einfach so, einfach mal schnell, zerstören: Man hat dann vielleicht einfach vergessen, dass sich mit einem eigenständigen Gewerbe der gesamte Lebensstil ändert. Aber „Selbständig-Machen“ ist ein anderes Thema.
Der Punkt hier ist: Familie und Ökonomie gehören vielleicht nicht in der imaginierten Idylle wohltuender Filme, aber in der Realität zusammen. Solche Beziehungen muss man gemeinsam gestalten, die muss man sich erarbeiten. Dann kann man sie ungeheuer geniessen. Gemeinsam.
Pädagogische Fachkraft bei Lebenshilfe Schenefeld mit interkultureller Sensibilität
1 MonatSehr spannend, informativ und plausibel erklärt, lieber Martin👌🏻 Am spannendsten fand ich die Parallele zwischen “Damals” und “Heute “🫶🏻 Für mich das Ausschlaggebende ist : „Gemeinsam „.❣️ Die Familie ist, wie Du es beschrieben hast, ein komplexes “Unternehmen”. Mit allem drum herum, was Du bereits geschildert hast. Die Familie bzw. deren Funktionalität IST harte Arbeit, in allen Bereichen, beginnend mit Vertrauen, Verantwortung , Finanzplanungen, Sensibilität, Erziehung der Kinder, Zeiten für die Zweisamkeit etc. etc. etc Das Ganzes bedarf stetig der Pflege und der Anpassung bzw. Flexibilität, ergo: Korrektur. Das ist meine Erfahrung und die Sicht der Dinge. Nicht so einfach, jedoch möglich. Danke Dir für den geistreichen Beitrag 🫶🏻🍀✊🏻 Viele Grüße Irina
Integrated Family Advisor und Family Dynamics Experte | Autor von “Family Mind” | Spezialist für Nachfolge, Konfliktlösung & Vermögenserhalt | Vertrauensvoller Partner für Unternehmer und Unternehmerfamilien
1 MonatDanke für diesen Post, Martin Natterer