Die Laisser Faire-Gesellschaft: Warum man Intoleranz nicht mit Toleranz bekämpfen kann
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Die Laisser Faire-Gesellschaft: Warum man Intoleranz nicht mit Toleranz bekämpfen kann

Ein Jude, der Holocaust-Leugnern eine Plattform bietet. Eine Deutsche, die in Lebenspartnerschaft mit einer Migrantin lebt und öffentlich gegen Ausländer hetzt. Marc Zuckerberg und Alice Weidel haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam - und doch sind sie willige Helfer der Laisser Faire-Gesellschaft, die ein gefährliches falsches Bild der offenen Gesellschaft zu Grunde legen, das zutiefst inhuman ist.

Facebook-Gründer und Vorstandsvorsitzender Marc Zuckerberg lässt die Leugnung der historisch abgesicherten Tatsachen über den Holocaust auf seiner öffentlichen Plattform zu mit dem Hinweis darauf, dass es ihn zwar tief verletzt, aber man könne den Leugnern keine Absicht nachweisen. Dies ist ein verheerendes Signal: Zuckerberg macht damit Ignoranz, Abschottung und Verschwörungstheorien auf folgenschwere Weise salonfähig. Es bedeutet, dass alles möglich ist, denn den Wissenschaften und damit dem Anspruch, Tatsachen objektivierbar abzubilden, wird der Hoheitsanspruch genommen. Die "Umwertung aller Werte" (Nietzsche) ist wieder in greifbarer Nähe - nur ist sie nun Volkes Sache geworden.

In der Laisser Faire-Gesellschaft ist alles gleich wichtig und unwichtig. Wertungen werden eingeebnet - es gibt keinen gemeinsamen Wertekanon außer dem Recht auf mediale Selbstentfaltung. Stattdessen gibt es fluktuierende, relative Wahrheiten, die nicht mehr an Verantwortung gekoppelt sind. Die Existenz der durch Jahrhunderte voller Aufklärung mühsam errungenen Menschenwürde wird zur individuellen Meinungssache, die man teilen kann oder nicht. Kants kategorischer Imperativ - "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde" - verliert seine Gültigkeit.

Schlimmer noch, als Grundlage von Entscheidungen dient nicht mehr die subjektive Wahrnehmung der eigenen Verletzlichkeit, die ins Menschliche überhöht wird, sondern eine errechnete Prognose über die entpersonalisierte Wirklichkeit, die auf das von der Gemeinschaft abgekoppelte Individuum bezogen wird. Säkularisierte, charakterlose Monaden kommunizieren in Spiegelkabinetten mit sich selbst, abgetrennt von ihrem eigenen Willen und somit auch von einem der eigenen Erfahrung verpflichteten Wertungszentrum. So kann man auch Flüchtlinge ertrinken lassen, weil man ihnen unlautere Absichten unterstellen kann - selbst Schuld! Dies erst macht Alice Weidel möglich.

Die Erfindung des modernen Massenmordes

Der Holocaust markiert eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Die industrielle Massenproduktion von Leichen hat den Genozid auf eine Stufe gehoben, die in ihrer organisierten Grausamkeit bis dato undenkbar war. So stark, dass selbst die Sprache ihre Unschuld verloren hat (Celan). Die Gräueltaten des Holocaust sind internationaler Konsens, bewiesen durch Dokumente, Aussagen von Tätern und Opfern und Zeitzeugenbefragungen, die in Untersuchungen in Geschichte, Philosophie, Soziologie und Psychologie verewigt sind - die Holocaustforschung ist sogar ein eigener Forschungszweig wegen des Ausmaßes des Geschehenen.

In den meisten Ländern sind die unglaublichen Verbrechen, für die Ausschwitz als traurige Metapher steht, schulisches Allgemeinwissen - es zeugt schon von erstaunlicher Weltfremdheit oder einer phantastischen Unbildung, auf jeden Fall aber von Ablehnung gesellschaftlicher Verbindlichkeit, wenn man dies irgendwie nicht mitgekriegt hat. Denn der Holocaust war keine Angelegenheit zwischen zwei Völkern, die das unter sich regeln - er ist ein grundlegendes Ereignis, das für immer die menschliche Gemeinschaft verändert hat.

Nun ist die systematische Vernichtung an über 5 Millionen Menschen mithilfe modernster Technologie also zum "Fliegenschiss" (Gauland) bagatellisiert worden. Dieser narzisstische, weltvergessene Provinzialismus in seiner bösesten Form ist kaum überzubewerten. Stattdessen sollte man die große Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts in ihrer kulturhistorischen Dimension betrachten: inwieweit war der Weg vom Antisemitismus, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts fast überall im Westen Mainstream war, bis hin zu den Konzentrationslagern ein Versagen der gesamten europäischen Gesellschaft? Diese Frage könnte einige Länder in Europa dazu inspirieren, ihre eigene Verwicklung in den Holocaust besser aufzuarbeiten. Und vielleicht kann man darüber etwas für die Krisenbewältigung der Gegenwart lernen.

Es gibt keine Toleranz bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Null. Aber es darf auch keinerlei Toleranz für diejenigen geben, die nicht die Konsequenzen ihrer ideologischen Gleichgültigkeit abwägen. Sie schalten sich gleich mit denen, die es tun. Auch Unterlassen ist Handeln.

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