Social Media und die Gretchenfrage - regulierter Liberalismus oder Community Organizing?
Faust: (…) Dort strömt die Menge zu dem Bösen; / Da muss sich manches Rätsel lösen. / Mephistotheles: Doch manches Rätsel knüpft sich auch. / Laß du die große Welt nur sausen, / Wir wollen hier im Stillen hausen. / Es ist doch lange hergebracht, / Daß in der großen Welt man kleine Welten macht.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Faust I)
Eine glückliche Ehe wäre es zwischen Gretchen und Faust wohl nie geworden - zu groß die Kluft zwischen den unrühmlichen Alltagsaufgaben auf der einen und narzisstischem Philistertum auf der anderen Seite. Ähnlich ist es mit Sozialismus und Kapitalismus. Auf der einen Seite das - mal mehr mal weniger - schöne Ideal der geteilten Fürsorge für Seinesgleichen, auf der anderen Seite der unstillbare Durst nach Kreation und Reproduktion. Und doch ziehen sie sich immer wieder magisch an, wie in Berlin gerade in der Diskussion um den Wohnungsmarkt zu beobachten ist.
Ja, ein neuer Gesellschaftsvertrag wäre dringend notwendig, der das Systemverständnis an das digitale Zeitalter anpasst. Schließlich wusste schon der französische Aufklärer Jean Jacques Rousseau, dass nur die volonté générale Grundlage echter Demokratie sein kann und keinesfalls das Gottesgnadentum! Soziale Absicherung in Zeiten des Plattformkapitalismus, die Wahrung der Netzneutralität, ein zeitgemäßes Urheberrrecht, individuelle Datenautonomie - die Themenliste ist lang.
Aber wo soll das Vertrauen herkommen, dieses wissenschaftliche Schauspiel auf breiter Bühne zu inszenieren? In Zeiten totaler Überwachung gibt es kaum fruchtbare Rückzugsräume für gesellschaftlich progressive Diskussionen - Menschen, die überwacht werden, passen ihr Verhalten an (gilt übrigens auch für Regierungen). Und Social Media-Kanäle erschöpfen sich in kommerzieller Werbung, Klatsch und Tratsch und Propaganda - neudeutsch Fake News. Massenhaft wird aus West und Ost gleichermaßen manipuliert, was das Zeug hält - da wird selbst die Yellow Press blass. Schade eigentlich, denn die Technologie bietet so viel Potential für qualitativ hochwertigen internationalen Austausch innerhalb der Wissenschaft zwischen den verschiedenen Fachbereichen, unter Think Tanks oder in der zivilgesellschaftlichen Anwendung.
Aber ist das Märchen über das Internet von "einer Welt, die jeder betreten kann ohne Privileg oder Vorurteil, unabhängig von Rasse, ökonomischer Macht, militärischer Stärke oder Geburtstrecht" (John Perry Barlow: A Deklaration of Independence of Cyberspace") nicht sowieso vorbei? Nach der Zeit des wilden Internets fürchten Kritiker der Regulierung eine Fragmentierung des World Wide Web. Die Sorge ist aber unbegründet. Das Internet ist nicht erst seit den Echo-Kammern und nationalen Einschränkungsbestrebungen fragmentiert. Netzwerke sind immer schon durch Sprache, Kultur und Unterschiede in der technologischen Zugänglichkeit unterteilt. Es ist deshalb nur logisch, dass Regulierungen kommen, die das Internet an die reale Welt anpassen.
Aber leider ist die Social Media-Euphorie längst in eine Social Media-Hysterie gekippt. Seit dem jüngsten Facebook-Skandal um Datenmissbrauch durch Cambridge Analytica meckern vor allem diejenigen, die der ganzen Technologie schon immer misstraut haben. Dies sind aber nur Symptome eines ernsteren Problems - der fehlenden Positionierung der Technologie-Unternehmen. Man kann nicht einerseits der Bürgergesellschaft ein liberales Lebensgefühl vermarkten und gleichzeitig mit Privacy-Verkauf an Unternehmen Geld machen oder gar staatliche Spähinteressen unterstützen.
Die Zukunft von Social Media wird davon abhängen, inwieweit es den Technologie-Unternehmen gelingt, geschützte Räume zu schaffen. Dazu muss aber der Wille vorhanden sein, für die Rechte der postmodernen, gleichberechtigten Bürgergesellschaft einzustehen, die im Moment leider noch in weiter Ferne liegt. Vertrauen muss man sich verdienen!
Dieser Text ist die Fortsetzung von Mephisto am Fließband - Der Siegeszug des Kapitalismus.