Digitale Schnitzeljagd: Generation Arzt fordert bessere Rahmenbedingungen und Abkehr von reaktiver Medizin
Stell dir vor, du bist ein Arzt, mitten in der Nacht, mit einem Patienten vor dir, der kaum Auskunft über seine Krankheitsgeschichte geben kann.
Willkommen in der Realität von Dr. Sven Jungmann , einem Arzt und Unternehmer, der uns im Werkgespräch #23 zeigte, wie mühsam und umständlich die Informationsbeschaffung im deutschen Gesundheitssystem sein kann. Er berichtet davon, wie er Google Street View benutzen musste, um ein Krankenhaus mit einer roten Mauer zu finden, das sein Patient beschrieben hatte, um sich von dort ergänzende Informationen zu beschaffen. Solche Geschichten sind nach Jungmann keine Seltenheit, sondern eher die Regel – und genau das muss sich ändern.
Einem Zufall haben wir es zu verdanken, dass wir im vergangenen Werkgespräch Sven zu Gast hatten. Sein Buch lag in der Auslage einer Buchhandlung. Michael Noll kam vorbei, steckte es ein und damit war die Idee geboren, erstmals in der jungen Geschichte unserer Werkgespräche die Veröffentlichung eines Buches, oder sagen wir besser dessen Titel zum Thema zu machen.
Das Buch richtet sich weniger an Branchenteilnehmer. Vielmehr verarbeitet Sven Jungmann seine Eindrücke als Arzt und Gründer mit dem Ziel, den Zustand des deutschen Gesundheitswesens zu diskutieren, und zwar fokussiert auf die Verwerfungslinie zwischen technologischen Möglichkeiten und am Menschen orientierter Medizin. Die Medizin, die er sich wünscht, beginnt mit den Rahmenbedingungen, in denen Ärztinnen und Ärzte agieren.
Sven Jungmann diskutiert in seinem Buch die Herausforderungen bei der Patienteninformation und -behandlung, insbesondere die Schwierigkeiten, wichtige medizinische Informationen rechtzeitig zu erhalten. Im Werkgespräch beschreibt er die Notwendigkeit eines effektiveren Systems zur Speicherung und Abrufung von Patientendaten. Er selbst sei ins Grübeln geraten, als er mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit tägliche Dinge im Netz erledigt habe und das alles nicht zur Realität im medizinischen Betrieb passen wollte.
Motivation für das Buch
Gegen die Entfremdung
Auf die Frage nach der Motivation für das Buch antwortet er, in Gesprächen mit professionell am Gesundheitsgeschehen Beteiligten würden oft genug Allgemeinplätze wie »Digitalisierung entmenschlicht« anstelle differenzierter Betrachtungen gesetzt.
Dabei sei die Ausstattung in den Kliniken unterirdisch und erschwere das Leben aller Beteiligter extrem. Triviale Verbesserungen könnten einen großen Entwicklungssprung darstellen. Die Realität ist, dass die »Entfremdung« bereits voll im Gange ist, da die Mediziner aufgrund von Dokumentation und Leistung gegen analoge Widerstände völlig ausgebrannt sind. Eine Studie zeige, dass Chat-GPT in Antworten bisweilen empathischer wahrgenommen werden als Ärztinnen und Ärzte. Ausgangspunkt sind die Nebentätigkeiten, die eine unter analogen Strukturen leidende Ärzteschaft im Rahmen der Dokumentation erdulden müssten. Im Alltag der Menschen angekommene Technik fehle zur Entlastung in den Kliniken. Ändere sich daran nichts, verstärke sich die Flucht des medizinischen und pflegerischen Personals weiter.
Die Nutzung von Google Street View zur Lokalisierung eines Krankenhauses und der mühsame Prozess, medizinische Informationen über Telefonate zu erhalten kollidieren in der Wahrnehmung der Menschen, die ein Krankenhaus benötigen. Hier entsteht ganz offensichtlich ein immer größer werdender Graben und die damit verknüpfte Widersprüchlichkeit verschärft die Vertrauenskrise.
Während in anderen Ländern, sogar in Saudi-Arabien, Patienten per App Zugriff auf ihre vollständige Krankengeschichte haben, kämpfen wir hier noch mit Faxgeräten und Papierakten.
In der Diskussion mit Digitalwerkern wurde klar, wie andere Länder Apps verwenden, um medizinische Daten zentral zu speichern und leicht zugänglich zu machen, und wie Deutschland in dieser Hinsicht hinterherhinkt. Zur Diskussion einer Zentralisierung oder dezentralen Aufbereitung von Daten kam es dann zwar nicht. Es bleibt anzunehmen, dass die Diskussionen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz das Thema kurzfristig noch einmal aufruft. Sven Jungmann ist überzeugt, dass KI die Medizin menschlicher macht, wenn wir es richtig angehen. Er argumentiert, dass KI nicht als Bedrohung, sondern als Hilfsmittel gesehen werden sollte, um die Arbeitsbelastung der Ärzte zu verringern und die Genauigkeit der Diagnosen zu verbessern. Beispiele wie die Nutzung von KI in der Radiologie wurden von Digitalwerker Thilo Mahr eingebracht. Dort sinke die Fehlerrate trotz anfänglicher Skepsis signifikant. Diese Erfolgsgeschichten verdeutlichen die positiven Aspekte des Einsatzes von KI und diese sollten dringend zur Anschauung gebracht werden.
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Zwischen Evidenz und Reaktion
Ein wunder Punkt, der zwischen den Wortmeldungen zu hören war. Wir verlassen uns zu sehr auf anekdotische Evidenz im Umgang mit digitalen Lösungen und der Diskurs rutscht dann häufig eher in den Bereich der Ablehnung, weil die Erfolge niemand wirklich nachvollziehen kann. Und wie später im Gespräch mit Sophia Schlette zum Ausdruck kam, fehlt auch eine Stelle, die sich um die unbewertete Aufnahme von Fehlern kümmert, um gemeinsam zu lernen, worauf es ankommt. Die medizinischen Disziplinen haben hierfür Institutionen. Die Teilhabe der Patienten ist darin eher passiv und das Qualitätsmanagement hat sich noch gar nicht mit den sich ändernden Szenarien einer datengestützten Medizin auseinandergesetzt, wenn es zur Organisation einer Gesundheitseinrichtung kommt.
Sven Jungmann kritisiert, dass viele Patienten nicht ausreichend über ihre eigenen Gesundheitszustände informiert sind und das Gesundheitssystem deshalb an vielen Stellen reaktiv statt proaktiv agieren muss. Die Rede ist von enormem Zeitverlust im Rahmen einer Begutachtung in der Notaufnahme bis zu verschleppten Schlaganfällen.
Eine reaktive Medizin verpasst zu viel, der Patient kommt erst, wenn die Beschwerden massiv sind. Dann ist es mitunter zu spät; selbst für das, was die Medizin in einem Fall hätte leisten können.
In seinem Buch geht Jungmann nicht auf konkrete Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung ein. Seine Hoffnung liegt auf funktionalen Informationssystemen und Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen. Patientenzentrierung sei wichtig, müsse aber nicht allerorts Priorität erfahren.
Clash der Realitäten
Viele Ärzte sind mit dem Status quo zufrieden, da er einkommensmäßig optimiert wurde oder es an Vorstellungskraft mangelt. Im Gespräche mit Ärzten dominiere die Angst-Perspektive, während Pflegekräfte ganz anders reagieren – sie möchten sofort Neues ausprobieren. Dies liegt sicherlich auch am hohen Leidensdruck im Moment, aber man könne von Haltung der Pflege lernen. Im Studium muss ein Arzt in der Lage sein, biochemische Formeln nachzuzeichnen, aber bei IT-Themen lässt man ihn völlig im Dunkeln. Hier fehlt es an der Ausbildung.
Über- und Unterdiagnostik hängen am Anreizsystem des Systems und natürlich ist eine höhere Sensibilisierung bei den Menschen zu beobachten, da zu einzelnen Krankheiten mehr berichtet wird. Bisher schwierige Themen, die mit Scham verbunden sind, treffen auf neuartige Strukturen in der Telemedizin. Die Menschen gehen nicht gerne mit intimen Problemen in ein Wartezimmer.
Unterrepräsentation von Geschlechtern tritt dabei sowohl bei Frauen als auch bei Männern auf, oft kulturell bedingt (Tabu-Themen). Geht es nach Jungmann, kann die digitale Auswertung auf eine breitere Masse angewendet werden als die manchmal sehr speziellen Studien. »Im Vergleich zu klinischen Studien liefern digitale Daten bessere Ergebnisse als die Alltagsevidenz der Menschen«, so der Arzt und KI-Unternehmer.
Ein weiteres Thema sind seltene Krankheiten. Hier kann KI mit einer großen Datenbank helfen, Probleme zu erkennen und Erfahrungen auszutauschen. Und ja, möglicherweise möchte man in solchen Fällen lieber einer KI vertrauen als Doktor House begegnen. Dazu bräuchte es jedoch noch einen langen Weg, denn kaum jemand verfügt derzeit über einen digitalen Zwilling, der dafür nötig wäre. Die Bereitschaft, sich eine elektronische Patientenakte anzulegen, liegt nach wie vor bei nahe null und auch die verpflichtende Anlage hängt stark an der Akzeptanz in der Ärzteschaft.
Patient oder Mensch
Jungmann berichtet von den ersten Jahren als Assistenzarzt und den Hinweisen von Altvorderen, was in der Akte steht, könne gegen ihn verwandt werden. Ein anderes Mal wird er damit konfrontiert, sein Hang zur Ausführlichkeit gleiche dem Lesen von Romanen. Man spürt, dass hier noch viel Aufklärung und eine offenbar vollkommen neue, kulturelle Praxis nötig ist, um eine konsistente Digitalisierung im Gesundheitswesen zu ermöglichen. Erst langsam sickert durch, dass Digitalisierungsbemühungen nicht dazu bestimmt sind, Ärztinnen und Ärzte auszutauschen. Eine Annahme, die auf menschlicher Emotion beruht. Es geht um einen vernünftigen Umgang mit einer stark steigenden Arbeitsbelastung im Sinne einer neuen Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine.
Es ginge dabei nicht darum, blind alles zu digitalisieren, sondern darum, sinnvoll und sicher Daten zu nutzen, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Er fordert für mehr digitale Bildung und Aufklärung in der Bevölkerung, damit diese versteht, wie wichtig und nützlich eine umfassende und zugängliche Gesundheitsakte sein kann.
Das Werkgespräch schloss dann auch noch einmal mit dem Hinweis, dass das Gesundheitsgeschehen nicht erst mit dem Patienten beginnt, sondern viele Menschen involviert sind. Deshalb plädiert Jungmann noch einmal vehement dafür, die Rahmenbedingungen, in der Gesundheit passiert und Medizin gelingt, menschenorientiert zu organisieren.
Innovation and Strategy Manager @ AOK Systems GmbH | COO, Manager
6 MonateAbsolut, da kann sicherlich das kollektive Gedächtnis der GKVen viele Puzzelteile zusteuern!