Das Vertrauen in den „Nanny-State“ ist trügerisch

Das Vertrauen in den „Nanny-State“ ist trügerisch

Eines der großen Phänomene dieser Zeit ist für mich, dass Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung in Deutschland stetig abnehmen – und es nur wenige zu stören scheint. Als die frühere grüne Landwirtschaftsministerin Renate Künast einst für einen fleischlosen Tag warb, den berühmten Veggie Day, war die Entrüstung noch groß. Darf ein Staat seinen Bürgern vorschreiben, was sie zu essen haben? Ein aktueller Entwurf aus dem Landwirtschaftsministerium unter Cem Özdemir sieht vor, dass Werbung für ungesunde Lebensmittel in den Medien deutlich eingeschränkt werden soll – dem Kinderschutz zuliebe. Was darunter fällt, definieren die Ministerialbeamten mit Hilfe von Grenzwerten. Ein normaler Joghurt mit 3,5 Prozent Fettanteil könnte so demnächst schon als ungesund gelten. Aha!

Interessanterweise bleibt diesmal ein vergleichbarer Aufschrei wie beim Veggie Day aus. Mit den Jahren hat sich in Deutschland eine Kultur des Verbietens und Intervenierens etabliert, die immer stärker in alle Lebensbereiche eingreift. Das sogenannte Heizungsgesetz, das vorsieht, dass ab 2024 jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden muss, die hochkomplexe Reform der Grundsteuer oder die „Taxonomie“ der Europäischen Union, über die Kapitalströme gezielt in nachhaltige Investitionen umgeleitet werden sollen, sind weitere aktuelle Beispiele, bei denen sich der Staat im Mikromanagement verirrt.

Vom Baurecht über die Steuern bis zur Finanzwirtschaft: Deutschland und die EU sind an vielen Stellen überreguliert. Der Normenkontrollrat der Bundesregierung beziffert den jährlichen „Erfüllungsaufwand“ der Unternehmen angesichts knapp 10.000 gesetzlicher Informationsverpflichtungen auf fast 50 Milliarden Euro. Der Staat zieht außerdem immer mehr Aufgaben an sich, für die er eigentlich nicht gebraucht wird oder bei denen er auch nicht regulierend tätig werden sollte. Mit dem Ergebnis, dass immer mehr Gesetze und Bestimmungen den Entscheidungsspielraum des Einzelnen einengen, ohne dass dies notwendig wäre. Der „Nanny-State“ behandelt seine Bürger wie Kinder, er entmündigt sie letztlich Stück für Stück. 

Allerdings trifft die Politik in Teilen der Bevölkerung durchaus auf fruchtbaren Boden. Sie fördert die Bequemlichkeit von Menschen, die im Zweifel auf die Allmacht des Staates setzen. Der Ruf nach dem regulierenden und großzügigen Staat wird immer lauter: Er soll die soziale Ungleichheit korrigieren, den Klimawandel bremsen, für bezahlbaren Wohnraum sorgen und die Unternehmen zu mehr Nachhaltigkeit und Diversität zwingen. Das Angebot eines Staates, der für die Lösung fast aller privaten Herausforderungen zuständig ist, wird von einer wachsenden Zahl von Menschen bereitwillig angenommen, gerade in Zeiten von multiplen Krisen, wie wir sie momentan erleben. Die Auslagerung jeglicher Verantwortung an die Allgemeinheit bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit findet der intervenierende Staat ein nahezu grenzenloses Tätigkeitsfeld vor, das er dankend annimmt. Diese Ausdehnung staatlichen Einflusses wird immer teurer, während die erhofften Effekte oft ausbleiben. Dies erschwert letztlich auch den notwendigen Aufbau privaten Vermögens. Eine Trendwende hin zu mehr Eigenverantwortung ist deshalb dringend notwendig. 

Ralf Dahrendorf hat bereits in den 1960er-Jahren in seiner Schrift „Gesellschaft und Demokratie" gefordert, eine Gesellschaft bedürfe eines festen Bodens und eines schützenden Daches. Das ist auch meine Überzeugung. Im Sinne der Chancengleichheit und des sozialen Friedens gibt es in unserem Sozialstaat zahlreiche sinnvolle Regelungen wie etwa die Systeme der Mindestsicherung, Wohngeldleistungen, den sozialen Wohnungsbau, finanzielle und personelle Unterstützung bei Krankheit und Behinderung sowie die Familien- und Ausbildungsförderung.  

Aber für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Wohlstand braucht es nicht mehr Staat. Es braucht mehr #Eigenverantwortung und #Entscheidungsfreiheit. Dafür ist es unumgänglich, dass sich der Staat wieder ein Stück weit aus dem Leben der Bürger zurückzieht. Statt immer mehr private Entscheidungen an den Staat zu delegieren und im Zweifel Geld einzufordern, sollten wir wieder auf mehr Eigenverantwortung und eigene Vorsorge setzen. Ludwig Erhard hat die Eigenverantwortung als die der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegende geistige Haltung gesehen. Davon haben wir uns heute gefühlt ein großes Stück entfernt. 

Gerade in Zeiten der knapper werdenden staatlichen Mittel gilt aber mehr denn je: Jeder sollte – natürlich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten – für die mit seinen Lebensprioritäten einhergehenden Risiken zusätzlich selbst vorsorgen. Das gilt vor allem für die zentralen Themen Gesundheit, Arbeit und Alter. Die Solidargemeinschaft des Sozialstaats versprach: Die sozialen Sicherungssysteme werden im Notfall für Entschädigung und Absicherung des Lebensstandards sorgen. Dabei ist es längst unstrittig, dass die Solidargemeinschaft angesichts der Demografie und der Spendierhosen vieler Sozialpolitiker dieses einst gegebene Versprechen immer weniger halten kann. Zahlreiche Menschen unterschätzen bestehende existenzielle finanzielle Risiken, offenkundiger Handlungsbedarf bei Finanzen, Vermögen und Vorsorge wird häufig ignoriert.

Eigenverantwortung bedeutet für den Einzelnen, dass er so lange die Hilfe der Allgemeinheit nicht in Anspruch nimmt, solange man von ihm billigerweise erwarten kann, dass er seine Dinge selbst regelt. Die Freiheit zur Selbstbestimmung ist nie leicht. Aber ist der „Nanny-State“ wirklich eine Alternative?  

Klaus Tosberg

Gesprächspartner für Finanzen bei MLP

1y

Weniger Politik heißt auch weniger Probleme! Recht pauschal, ok, aber in der Tendenz richtig!

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Dr. Marika Thiersch

Wer aufhört besser zu werden, hat aufgehört gut zu sein!

1y

Vielen Dank für diesen Beitrag, Herr Uwe Schroeder-Wildberg! Leider werden bereits unsere Kinder im deutschen Schulsystem darauf getrimmt, in der Masse mitzuschwimmen. Wer anders denkt, geschweige denn selbstbewusst Sachen hinterfragt und eigenständig neue Lösungen findet, wird bestraft und ausgegrenzt. Angekommen im Arbeitsleben wird es Angestellten nicht leichter gemacht. Harte Vorschriften und der Hang zum Mikromanagement bei einigen Führungskräften fördern eben keine Entscheidungsfreudigkeit und Eigenverantwortung. Die Frage ist, wo fangen wir an zu handeln? Vertrauen, Mut machen, eine gesunde Fehlerkultur zulassen, fordern und fördern gepaart mit einer Führung, die dies auch (vor)lebt. Dann hätten wir auch mehr verantwortungsbewusste und entscheidungsfreudige Menschen in Deutschland, die den „Nanny-State“ damit wahrscheinlich ablehnen.

Evelyn Zeitel

Kanzlei für Familienrecht Mediation und Coaching (Selbstständig)

1y

Ich kann da nur aus ganzem Herzen beipflichten, Uwe!

Lars Bleiweiß

Excellente Dienstleistungen für meine Mandanten! | Ich helfe Ihnen als Experte die richtigen Finanz-Entscheidunge zu treffen! | Spezialist für Kapital-Immobilien | Vertriebsbeauftagter :pxtra

1y

Das sollte auf jeden Fall zum Nachdenken anregen!

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Jan Schwekendiek

Keine Stärke kommt an die Innovationskraft heran. Sind sie nicht innovativ, könnten sie der nächste Stephen Elop werden. Wenn sie Lust auf Innovationen haben, haben wir ein Gespräch

1y

Super geschrieben und trifft eines unserer großen Probleme auf den Kopf. Ich hoffe, dass der Beitrag viele zum Nachdenken anregt.

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