Warum Arbeit 4.0 klare Regeln braucht
Nicht nur Unternehmen stellt die Digitalisierung vor neue Herausforderungen. Auch der Gesetzgeber muss sich im Zuge des digitalen Wandels mit völlig neuen Fragen befassen. Ein zentraler Bereich ist dabei das Arbeitsrecht. Denn der massive Umbruch, den unsere Arbeitswelt wegen der neuen digitalen Technologien durchmacht, braucht klare Regeln.
Die Technik eilt voraus
Die Liste der arbeitsrechtlichen Fragen, die sich im Zuge der Digitalisierung auftun, ist lang: Was wird aus dem gesetzlichen Acht-Stunden-Tag, wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen? Inwieweit dürfen Arbeitgeber GPS-Daten ihrer Mitarbeiter nutzen? Oder wann ist ein Crowdworker selbstständig, wann abhängig beschäftigt – und damit sozialversicherungspflichtig?
Blicken wir weiter in die Zukunft, werden die Fragen nicht gerade einfacher: Wer haftet beispielsweise, wenn eine Entscheidung nicht mehr von einem Menschen, sondern von künstlicher Intelligenz getroffen wird? Viele Regelungen der analogen Welt lassen sich nicht einfach auf die digitale Welt übertragen – und stoßen dort an Grenzen.
Wunsch nach mehr Flexibilität
Besonders deutlich wird die Kluft zwischen Lebenswirklichkeit und Rechtslage beim Thema Arbeitszeit. Die letzte Änderung des Arbeitszeitgesetzes in Deutschland stammt aus dem Jahr 1994 und schreibt eine tägliche Arbeitszeit von maximal acht Stunden vor. Damit ist eine Forderung der Arbeiterbewegung aus dem 19. Jahrhundert erfüllt worden – diese hatte allerdings noch den körperlich arbeitenden "Malocher" aus der Fabrik im Blick. Das heute gültige Gesetz sieht zudem vor, dass zwischen zwei Arbeitseinsätzen elf Stunden Ruhezeit liegen sollen.
Digitale Technologien haben Mitarbeitern inzwischen jedoch völlig neue Möglichkeiten eröffnet, orts- und zeitunabhängig zu arbeiten. Zudem hat die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Arbeitnehmer heute einen höheren Stellenwert als noch früher. Nehmen wir beispielsweise an, ein Arbeitgeber möchte bis zum Nachmittag arbeiten, anschließend seine Kinder aus der Schule abholen, in den Sportverein bringen und abends noch einmal seine Mails beantworten. Liegt ein Rechtsbruch vor, wenn zwischen dem abendlichen Mailcheck und dem nächsten Morgen im Büro weniger als elf Stunden liegen? Arbeitgeber stehen hier angesichts der veralteten Rechtslage vor einem Dilemma.
Immerhin gestattet das Gesetz individuelle Regelungen per Tarifvertrag. So ermöglichen die Tarifverträge in der Chemieindustrie bereits seit Längerem flexible Arbeitszeitmodelle, Regelungen über Langzeitkonten und lebensphasenorientierte Arbeitszeiten. Auch bei Merck bieten wir unseren Mitarbeitern mit dem innovativen Arbeitsmodell mywork@merck die Freiheit, im Rahmen des Möglichen flexibel und autonom über Arbeitsort und -zeit zu entscheiden. Mit Blick in die Zukunft fordert der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC), dem ich vorstehe, von der Politik die Öffnung weiterer „Experimentierräume“ für die tarifliche Gestaltung neuer Arbeitsmodelle.
Der Gesetzgeber hat die Bedeutung des Themas jedenfalls erkannt. So treibt das Bundesarbeitsministerium (BMAS) aktuell ein Homeoffice-Gesetz voran, das Arbeitnehmern bessere Möglichkeiten geben soll, von zu Hause aus zu arbeiten. Im BMAS gibt es zudem eine Denkfabrik, die neue Regelungen für die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt konzipieren soll.
Die Angst vorm gläsernen Beschäftigten
Einerseits erleichtern das Smartphone und die Cloud die Arbeit von zu Hause aus – gleichzeitig aber auch die Kontrolle durch den Chef. Auch beim Thema Datenschutz und Privatsphäre haben sich in der neuen Arbeitswelt viele rechtliche Fragen aufgetan. Und auch hier kommt es auf die richtige Balance zwischen Schutz und Überregulierung an.
Daten sind der Rohstoff der digitalen Ökonomie, sie ermöglichen effizientere betriebliche Abläufe und neue Geschäftsmodelle. Zudem eröffnen sie neue Möglichkeiten bei der Mitarbeiterevaluation. Gleichwohl müssen die Daten von Beschäftigten auch weiterhin einen hohen Schutzstandard genießen und dürfen vom Arbeitgeber nicht zur Überwachung der eigenen Mitarbeiter missbraucht werden.
Logistiker oder Paketboten werden heute zum Beispiel von intelligenten GPS-Systemen auf dem schnellsten Weg durch das Lager oder den Straßenverkehr gelotst. Gleichzeitig lassen die dabei gesammelten Daten Rückschlüsse zu, wann die Beschäftigten sich wo genau aufhalten. Wo hört also notwendige Kontrolle auf und wo fängt unzulässige Überwachung an?
Wie schwierig es ist, hier die richtige Balance zu finden, zeigen die Diskussionen um das Bundesdatenschutzgesetz, das auch Regelungen zum Umgang mit Beschäftigtendaten enthält. Die einen befürchten, dass das Gesetz eine missbräuchliche Mitarbeiterüberwachung nicht verhindern kann. Den anderen gehen die Bestimmungen des Gesetzes zu weit, etwa das Recht auf die Löschung von Daten im Falle einer Kündigung.
Den richtigen Mittelweg finden
Mittlerweile diskutieren Unternehmen, Regierungen und Wissenschaftler weltweit über den angemessenen Rechtsrahmen für Arbeit 4.0. Erst kürzlich hat die Internationale Arbeitsorganisation ILO, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, einen ausführlichen Bericht mit Vorschlägen zur Reglementierung der Arbeitswelt von morgen vorgelegt.
Eine breite und kontinuierliche Diskussion ist essenziell, denn der technologische Fortschritt eilt voraus und schafft Fakten. Die Politik darf nicht den Anschluss verlieren, will sie den Wandel der Arbeitswelt zum Wohle aller gestalten. Arbeit 4.0 verlangt nach einem klaren Rechtsrahmen, der Unternehmen einerseits genug Flexibilität gibt, um das volle Potenzial der neuen technologischen Möglichkeiten auszuschöpfen, gleichzeitig aber einen angemessenen Arbeitnehmerschutz gewährleistet. Wir müssen dabei – wie so oft – den besten unter den unzähligen Mittelwegen finden.